Die Unterscheidung

Die Unterscheidung


von Heiko Kleve


 


Wir sollten etwas ändern! Darin sind sich Fritz Simon und Steffen Roth einig.


Für Simon ist die Unterscheidung wichtig zwischen dem, was wir tatsächlich gestalten können und dem, was wir aushalten müssen, weil es nicht gewandelt werden kann. Die Weisheit besteht darin, das eine und das andere passend voneinander zu unterscheiden. Das, was sich für Steffen Roth transformieren soll, ist zwar ebenfalls sperrig und tendenziell in tradierten Schablonen fixiert, aber zumindest scheint es leichter bestimmt werden zu können als die Simon‘sche Unterscheidung, nämlich unsere Arten und Weisen, die soziale Welt, die Gesellschaft, den Markt sowie die Relationen der gesellschaftlichen Funktionssysteme zueinander zu beschreiben und zu erklären. So zumindest habe ich Roth verstanden: Unsere üblichen Narrationen etwa bezüglich des Marktes und des Staates sind überkommen, passen nicht mehr auf eine sich deutlicher als je zuvor manifestierende Weltgesellschaft.


Dass die eine Weltgesellschaft spürbarer war als vielleicht jemals zuvor in den letzten Jahrzehnten zeigte sich paradoxerweise durch die körperliche und räumliche Separierung in den Zeiten des Pandemie-Lockdowns. Wir waren zwar in unseren heimischen Wänden voneinander abgeschottet, aber zugleich in unseren psychischen und sozialen Aufmerksamkeiten auf ein Ereignis, der medialen Inszenierung der Corona-Ausbreitung, ihrer Wirkungen, gesundheitlichen Folgen und politischen Interventionen, ausgerichtet. Eine Massenpsychologie der Corona-Pandemie wird noch zu schreiben sein, um zu verstehen, was da eigentlich mit uns passiert ist. Die Soziologie dieser Situation ist das, was uns hier interessiert.


Die soziologische Position hat Einfluss auf die soziale Welt nicht dadurch, dass sie postuliert, wie wir praktisch handeln sollen, sondern dadurch, dass sie begreifbar macht, in Begriffe fasst, womit wir es überhaupt zu tun haben, wenn wir über das Soziale oder über die Gesellschaft sprechen. Speziell Krisenzeiten können uns zeigen, ob die gängigen sozialwissenschaftlichen Konzepte noch passen oder ob andere konstruiert werden müssen. Und wenn wir anfangen, alternative Theorien zu entwickeln, ändert sich mit unseren Beschreibungs- und Erklärungsinstrumenten womöglich das, worauf wir uns beziehen, mithin die Gesellschaft, ihre Subsysteme und Organisationen. So hofft Steffen Roth: „Eine andere Gesellschaft wird möglich, wenn sich auch und gerade die mächtigsten Organisationen der Welt konsequent als Alternativen begreifen, indem sich Staaten also ohne Wenn und Aber als Teil des Weltmarktes betrachten, statt sich weiterhin im hoffnungslosen Versuch, das Marktspiel gruppenegoistisch zu begrenzen, immer tiefer in jene Wettbewerbsmechanismen zu verstricken, die sie angeblich beherrschen wollen.“


Woran würden wir einen solchen Wandel erkennen, die Wirkungen dieser anderen begrifflichen Differenzierung beobachten, die die alten Unterscheidungen hinter sich lässt? Wenn Staaten nicht anders gefasst werden sollten als Organisationen, was heißt das dann für unser Verständnis von Politik? Und schließlich: Wie sieht eigentlich Fritz Simon eine derartige Perspektive, die sich seinen Unterscheidungen und normativen Setzungen, wie etwa der Kritik am Neoliberalismus und der moralischen Forderung nach mehr Demokratie und stärkerer Eindämmung marktlicher Logiken, entzieht? Wenn wir den Markt als Umwelt der Funktionssysteme beobachten, dann entgeht er unserer Einflussnahme, generiert er seine Dynamik gerade im sozialen Jenseits der Organisationen, die die Gesellschaft zu gestalten versuchen. Fast wie in den Planwirtschaften des Realsozialismus entsteht das von selbst, überall, immer wieder, was die Gesellschaftsgestalter ein für alle Mal aus der Sozialwelt verbannen wollten: der Markt. Gegen den Markt zu sein, wäre dann fast so wie gegen die basalen Interaktionen zu sein, die dann beginnen, wenn mindestens zwei Personen aufeinander ausgerichtet sind. Denn, mit Fritz Simon: „Wer handelt, der handelt“, verrechnet also seine Taten in der Logik des Marktes über die basale Reziprozität von Geben und Nehmen.


 


 


Neue Normalität oder postpolitische Gesellschaft


von Steffen Roth


 


Zunächst zwei Korrekturen. Zum einen arbeite ich beruflich meist mit Konditionalprogrammen. Entsprechend selten ist von mir ein Satz zu hören wie «Wir sollten etwas ändern!». Was man von mir aber häufiger hören kann, sind Formulierungen wie «Wenn wir etwas ändern wollen, dann wäre [Strategievorschlag] ein geeigneter Weg». Nicht anders sind die Ausführungen in meinem letzten Beitrag zu verstehen. Zum anderen habe ich den Markt nicht als «Umwelt der Funktionssysteme» beobachtet, sondern als Umwelt von Entscheidungssystemen, die man funktional differenzieren kann, und das auch über den ökonomischen Tellerrand hinaus. Eine solche multifunktionale Perspektive auf den Markt liegt implizit auch zugrunde, wenn die UNESCO das Markttreiben auf dem Djemaa el Fna als immaterielles Weltkulturerbe der Menschheit unter «Sozialschutz» stellt, und das ausdrücklich, um Marrakeschs zentralem Marktplatz vor Ökonomisierung zu schützen: Wenn man glaubt, Märkte vor Ökonomisierung bewahren zu können, denkt man zwangsläufig, dass sie nicht per se ökonomisch sind. Auch für Hannah Arendt war die Idee vom rein ökonomischen Markt eine Vorstellung, die mit den Interessen antiker wie zeitgenössischer Despoten besser korrespondiert als mit jenen einer demokratischen Gesellschaft, in der der Bürger eben nicht nur wie im Lockdown zum Arbeiten und Einkaufen, sondern auch zum Demonstrieren, Lernen, Philosophieren, Theaterspielen, Trainieren oder Flanieren das Haus verlässt.


Dabei erzeugt die Beobachtung eines transökonomischen Marktes weder Durcheinander noch verschwimmende Systemgrenzen. Wenn es sich beim Markt um die Umwelt von Entscheidungssystemen handelt, dann können Organisationen ihre Umwelt just dadurch sozial differenzieren, dass sie klare Unterscheidungen treffen. Dass man Marktsegmente unterscheiden oder marktliche Zentralisierungstendenzen beobachten kann ist ein alter Hut. Auch dass man Märkte stratifizieren und sich so auf Luxus-, Premium- oder Massenmärkte beziehen kann ist nicht neu. Warum sollten sich Märkte dann nicht auch ebenso selektiv wie trennscharf funktional differenzieren lassen?


Ein Vorteil einer loseren begrifflichen Kopplung von Organisation und wirtschaftlichem Markt besteht darin, dass der Horizont der Alternativen nicht vorab künstlich begrenzt wird. So kann man nun beobachten, dass sich Regierungsorganisationen im Zuge der Coronakrise ganz neue strategische Optionen ergeben. War man zuvor ganz politökonomisch vor allem darauf konzentriert, Machtmanöver mit Machtmanöver zu parieren und sich gegenseitig ökonomisch den Schneid abzukaufen, so kann man im Zuge der neuerstarkten Relevanz von Gesundheit nun noch auf ganz andere Ideen kommen. Zum Beispiel kann man als bayerische Landesregierung Einwohnern von gesundheitlich als bedenklich eingestuften Landkreisen die Einreise verweigern. Dass diese Landkreise aktuell bevorzugt in Nordrhein-Westfalen liegen sollten versteht sich. Dann öffnet man ein touristisches Schlupfloch für jene betroffenen Einwohner, die sich «freiwillig» negativ testen lassen konnten. Das Arrangement erhöht die Testmotivation in den Problemlandkreisen und – sobald wir nur eine geringe Korrelation zwischen Testhäufigkeit und Infektionszahlen vermuten dürfen – auch deren Infektionszahlen. Die nordrhein-westfälische Landesregierung steht somit erheblich unter Zugzwang und handelt sich schlimmstenfalls ein sich selbst verstärkendes Problem ein. Für die bayerische Landesregierung ein zweifacher Vorteil: man baut Druck auf Konkurrenten auf und geriert sich als Schwert und Schild der eigenen Bevölkerung. Bei all dem ist Geld zweitrangig. Wenn wir die alte Normalität mit kapitalistischem Interessengerangel assoziieren, dann sind derartige «gesundheitspolitische» Manöver womöglich ein Vorgeschmack auf neunormale Verhältnisse.


Wenn dieses und ähnliche Beispiele Schule machen, dann stünde tatsächlich ein kleiner Epochenwechsel an. Allerdings wirklich nur ein kleiner, denn die eigentliche, dann gewissermassen «postnormale» Fantasieleistung bestünde nach wie vor darin, sich eine Gesellschaft vorzustellen, bei der man im Krisenfall nicht reflexartig vor allem an Politik und immer mehr Politik denkt. Anders als eine postkapitalistische oder gar geldfreie Gesellschaft können wir uns eine weitgehend politikfreie oder zumindest deutlich weniger durchmachtete Gesellschaft schon seit langem nicht mehr recht vorstellen. Ganz Soldat des Politischen verunglimpft man daher selbst den leisesten Gedanken an Alternativen jenseits von politischer Ökonomie, politischer Ökologie oder nun vielleicht auch wieder Biopolitik: «Was wäre denn in der gegenwärtigen Situation zu tun, wenn wir den schlankeren Staat hätten und wenn z.B. das Wachstum der Religion statt der Wirtschaft in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt würde? Mehr beten? Mehr Gottesdienste? Was dies betrifft, fand ja bereits ein beeindruckendes Superspreader-Experiment in Südkorea und, wenn auch im Ausmaß bescheidener, in der Frankfurter Baptistengemeinde statt.» Diese kurzerhand selbstbeantwortete Frage hatte Fritz Simon an mich weitergegeben, und ich kann an dieser Stelle nur immer wieder an das Credo unserer Theorie erinnern, der zufolge der logische Zusammenhang zwischen einem gesundheitlichen Problem und einer religiösen Lösung auch nicht loser als der zwischen einem gesundheitlichen Problem und einer politischen Lösung ist. Wie oben gezeigt kann auch ein politisches Manöver ein gesundheitliches Problem heraufbeschwören, auch und gerade, wenn es sich als ein statistisches und somit eigentlich wissenschaftliches Problem beobachten lässt.


Demnach ist die von Heiko Kleve gestellte Frage nach den relevanten gesellschaftlichen Unterscheidungen eben nicht länger qua Kurzschluss vor allem eine Frage der Politik, und auch was Politik angeht nicht vor allem eine der politisch korrekten Ziele oder Inhalte, sondern zu aller erst eine der gesellschaftlich anschlussfähigen Dosis von Politik. In diesem Sinne hat die Coronakrise nicht nur die Einen daran erinnert, wie sich zu viel Politik anfühlt, und den Anderen Lust auf mehr gemacht, sondern uns allen auch auf Weltniveau vorgeführt, dass auch und gerade nicht-politische Entscheidungen den Horizont politischer Alternativen erheblich einschränken können. Zu sehen ist dieses internationale Leitmotiv etwa im Schwank vom «Drosten-Schwenk» in einer hierzulande wohlbekannten Adaptation.


Nach all diesen Aufführungen können wir es nun nicht mehr nicht wissen: Es schläft immer mehr als nur ein Lied in allen Dingen. Wir müssten nur unser Gehör trainieren. Sonst hören wir auch die nächsten Jahrzehnte vornehmlich Partisanenchor und Marschmusik.


 


 


Die Monopolisierung der Aufmerksamkeit


von Fritz B. Simon


Wahrscheinlich liegt es ja an mir. Irgendetwas muss ich ja falsch machen, denn, wenn ich die Themensetzungen von Heiko Kleve lese (nicht nur die aktuelle, sondern auch schon einige vorher), habe ich das Gefühl als Projektionsschirm für irgendwelche Positionen zu fungieren, die ich nicht vertrete. Ich kenne dieses erstaunte Gefühl aus der Zeit, als ich als Psychoanalytiker gearbeitet habe. Aber da habe ich hinter einer Couch gesessen und mich nur minimal geäußert, um solche Projektionen zu ermutigen und so einen (vermeintlich unverfälschten) Einblick in das Denken und Fühlen der Analysanden zu erhalten. Aber hier, so mein Eindruck, schreibe ich jedes Mal dasselbe, und trotzdem wird es von Heiko Kleve (aber auch, wie mir scheint, von Steffen Roth) in einer Weise gelesen, die nicht meinen Intentionen entspricht. Was mache ich bloß falsch? Eine alternative Erklärung wäre, dass meine Positionen nicht zu den Entweder-oder-Unterscheidungen meiner Trialog-Partner passen und irgendwie quer zu ihnen liegen („tertium datur“) ...


Also, um zu Beginn einigen aktuellen Formulierungen Heiko Kleves zu widersprechen, durch die ich meine Ansichten missverstanden dargestellt sehe.


Er schreibt, mir sei „die Unterscheidung wichtig zwischen dem, was wir tatsächlich gestalten können und dem, was wir aushalten müssen, weil es nicht gewandelt werden kann“. Das ist nicht ganz richtig. Denn ich denke nicht, dass irgendetwas „nicht gewandelt werden kann“ (alles wandelt sich, und es muss immer die Nicht-Veränderung erklärt werden). Aber wir können vieles nicht aktiv und zielgerichtet – geradlinig-kausal – festlegen und kontrollieren (weil wir in selbstorganisierte Systeme intervenieren). Wenn Heiko Kleve dies als „schwer zu bestimmen“ erscheint, so hat er genau erfasst, worum es mir geht: Wir können nicht auf einer abstrakten Ebene ein für alle Mal beantworten, was verändert werden sollte, sondern müssen dies immer wieder aufs Neue anhand konkreter Fragestellungen tun. Und wir müssen dann keinesfalls aushalten, was uns nicht gefällt, sondern wir können uns negativ definierte Ziele setzen, im Sinne von: xy wollen wir nicht zulassen (verhindern, vermeiden...).


Ein weiteres Beispiel: Heiko Kleve fragt, wie ich eine „Perspektive“ sehe, „die sich seinen [d.h. meinen, FBS] Unterscheidungen und normativen Setzungen, wie etwa der Kritik am Neoliberalismus und der moralischen Forderung nach mehr Demokratie und stärkerer Eindämmung marktlicher Logiken, entzieht“. Ich bin dankbar für diese Formulierungen, weil sie mir die Gelegenheit eröffnen, ihre impliziten Erklärungen und Bewertungen zu korrigieren. Es ist m.E. (1) keine normative Setzung, wenn ich den Neoliberalismus für eine fatale Ideologie halte. Eine Ideologie, die sich selbst höchst normativ präsentiert, zu negieren bzw. generell: eine Norm zu negieren, ist nicht zwangsläufig selbst normativ. (2) Wenn ich die Begrenzung marktlicher Logiken fordere, dann hat das (2) nichts mit dem Ruf nach mehr Demokratie zu tun (da rufe ich überhaupt nicht, denn ich halte die repräsentative Demokratie für ein ziemlich intelligentes System, wenn auch durchaus optimierbar), und (3) diese Forderung ist nicht im Geringsten moralisch motiviert. Ich halte die Form des Marktes einfach als Mittel zur Lösung manch gesellschaftlicher Probleme für idiotisch. Idiotie wie Mangel an Intelligenz sind für mich keine moralisch zu verurteilende Qualitäten von Entscheidungen oder Entscheidungsprinzipien. Für idiotisch – d.h., wenn man der ursprünglichen Wortbedeutung folgt: abgehängt von sozialen Zusammenhängen – halte ich Märkte auch nicht generell (schließlich habe ich etwa ein halbes Dutzend Unternehmen gegründet, die sich ganz manierlich auf unterschiedlichen Märkten zu bewegen wissen), sondern nur in bestimmten Infrastruktur-Bereichen (wie etwa zur Organisation des Rechts-, Bildungs-, Gesundheits-, Wissenschaftssystems usw.; das politische System folgt m.E. ja eh schon zu einem großen Teil einer Marktlogik).


Wenn ich Donald Trump, Joao Bolsonaro, Vladimir Putin und Kinderschänder aufgrund ihres Verhaltens verachte, so ist dies nicht theoretisch begründet, und die zugrundeliegenden moralischen oder ethischen Gründe bestimmen auch nicht meine theoretischen Konstruktionen (zumindest ist mir das nicht bewusst, aber vielleicht wissen da ja meine Mitstreiter mehr über mich...).


Nun zur Idee Steffen Roths, Staaten als Organisationen zu betrachten und sie als Akteure auf einem globalen Markt zu betrachten. Ich halte immer noch – wie bereits früher mal erwähnt – die Formulierung „der Staat ist die Selbstbeschreibung des politischen Systems“ (Luhmann, 1984, Soziale Systeme, Frankfurt, S. 617) für am nützlichsten. Den Staat als Organisation zu betrachten, scheint mir verfehlt; wenn schon, dann als Netzwerk von Organisationen, die obendrein noch unterschiedlichen Funktionssystemen zuzurechnen sind (Gerichte dem Rechtssystem, Universitäten dem Wissenschaftssystem usw.). Regierungen, Parlamente, Parteien usw. sind eigenständige Organisationen; sie nicht dem Staat zuzurechnen erscheint mir hingegen theorietechnisch wenig nützlich. Und Regierungen können den Staat tatsächlich (irrigerweise) wie Organisationen oder gar Unternehmen betrachten, die sich auf einem Markt bewegen. Donald Trump exerziert das ja gerade vor, wenn er die USA nach den Erfolgsprinzipien New Yorker Immobilien-Haie führt und offenbar internationale Beziehungen primär als Konkurrenzbeziehungen konzeptualisiert.


Damit sind wir bei meinem Haupteinwand gegen die Utopie (oder sollte ich sagen: Dystopie) Steffen Roths. Wenn Staaten sich (nur noch, denn das tun ihre Regierungen ja jetzt schon zur Genüge) als Akteure auf einem weltumspannenden Markt verstehen würden, dann wäre das m.E. als zivilisatorischer Fehltritt zu bewerten. Und das läge gar nicht daran, dass da plötzlich besonders böse Akteure auf der Bühne erscheinen, sondern an dem, was Marktmechanismen generell charakterisiert. Es sind Aspekte, die so gut wie nichts mit dem zu tun haben, was traditionell über Märkte gesagt wird. Es geht nicht in erster Linie um Angebot und Nachfrage, nicht um Käufer und Verkäufer, um die Allokation von Ressourcen, um zahlen und bezahlt werden (obwohl auch die Reduzierung sozialer Beziehungen auf die Rollen des Zahlers und Zahlungsempfängers eine nicht angemessene Komplexitätsreduktion darstellen würde).


Es geht vielmehr um die allgemeinen Mechanismen von Kommunikationssystemen, die – leider – den meisten Wirtschaftswissenschaftlern nicht bewusst sind und die daher auch nicht ihrer Relevanz gemäß in deren Theoriekonstruktionen einfließen (obwohl jeder Akteur auf nahezu jedem Markt der Welt täglich damit konfrontiert ist): Kommunikation zwischen Menschen funktioniert nur, wenn es gelingt einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus zu finden. Das ist in Zweierinteraktionen relativ leicht zu erreichen, wo jeder das Verhalten des Partners beobachtet und bewertet, so dass der Tausch von Verhalten wie der von Waren langfristig bilanziert werden kann („Wer handelt, der handelt“). Aber die Hochrechnung von Zweierbeziehungen auf die Logik größerer Märkte ist deswegen unsinnig, weil nun das Matthäus-Prinzip wirksam wird. Das heißt konkret: Wer bekannt ist (= im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht), wird immer bekannter (gelangt immer mehr und immer markanter in den Fokus von immer mehr Marktteilnehmern). Die ökonomischen Konsequenzen sind vielfältig, vor allem aber, dass derjenige, der schon große Marktanteile besitzt, mit großer Wahrscheinlichkeit seine Marktanteile nicht nur behält, sondern neue hinzugewinnt. Dies erfolgt unabhängig von der Qualität des eigenen Produktes oder der Qualität der Produkte der Mitbewerber; das wiederum führt in unregulierten Märkten zu einer Wild-West-Dynamik, denn der Erfolg auf Märkten hängt immer auch von der Kapitalstärke (Aufmerksamkeit kann man kaufen) oder anderweitig begründeten Macht der Akteure ab. Die Großen werden immer größer usw. – Karl Marx hat diese Dynamik der Monopolbildung gut analysiert. Wenn sich Gesellschaften allein marktförmig organisieren, werden die sozialen Spaltungen zwangsläufig immer größer (wer diese Dynamik am eigenen Leib erproben will, sei auf das „Zahlenexperiment“ in meinem Buch „Gemeinsam sind wir blöd“ verwiesen).


Wichtiger noch als die Kapitalstärke sind, da es um öffentliche Aufmerksamkeit geht – der Markt als Bühne – die Verbreitungsmedien. Wer über sie verfügt (siehe "Cambridge Analytica" und die Nutzung "sozialer Medien"), hat einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Dynamik von Märkten. Denn die Steuerung sozialer System funktioniert generell über die Fokussierung kollektiver Aufmerksamkeit.


Dies ist der Grund, warum Märkte ungeeignet sind, um bestimmte gesellschaftliche Subsysteme (auch wenn sie als deren Umwelten betrachtet werden können/müssen) in einer Weise zu steuern, die sich an anderen Kriterien als der Mehrheitsmeinung orientieren. Andernfalls würden z.B. Urteile vor Gericht meistbietend versteigert oder wie „Deutschland sucht den Superstar“ durch die Abstimmung des Publikums entschieden.


Das von Steffen Roth in Zweifel gezogene Gewaltmonopol des Staates ist m.E. – auch wenn bzw. gerade weil es Kriminalität usw. gibt – unverzichtbar als Voraussetzung eines funktionierenden Rechtssystems; ja, ich meine sogar (mit Norbert Elias, 1939, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt, 2000), dass es ein unverzichtbares Merkmal von „Zivilisation“ ist. Denn es eröffnet den Weg zu Formen der Konfliktlösung ohne Gewaltanwendung. Die rechtliche Auseinandersetzung ersetzt den Kampf mit Waffen in der Hand, bei dem im Zweifel immer der Stärkere bzw. der mit den besseren Waffen gewinnt. Gewalt ist ein Kommunikationsangebot, dem nicht oder nur schwer die Aufmerksamkeit verwehrt werden kann. Das macht ihre Anwendung so attraktiv. Das Rechtssystem ermöglicht gewaltfreie Konfliktlösungen, aber es funktioniert nur, wenn der Staat das formale Gewaltmonopol besitzt und so die Durchsetzung seiner Entscheidungen – zur Not durch die Anwendung von Gewalt – forcieren kann.


Was geschieht, wenn kein Staat diese gewaltgestützte, das Rechtssystem absichernde Funktion übernimmt, konnte in Sizilien vor Gründung des italienischen Staats (1861) studiert werden. Damals wechselten die fremden Herrscher „Beider Sizilien“ so häufig, dass keine zuverlässigen staatlichen Strukturen aufgebaut werden konnten. Dies führte zu großer Rechtsunsicherheit. Man konnte nicht mit der Vertragstreue seiner Handelspartner rechnen. Diese Leerstelle füllte die Mafia, indem sie eine Art durch Gewaltandrohung gestützten Rechtsschutz verkaufte. Wer bekanntermaßen den Schutz eines „Paten“ genoss, brauchte keine Sorge zu haben, von seinen Geschäftspartnern betrogen zu werden. Die Mafia als private Organisation „verkaufte“ eine Funktion des Staates, die dieser nicht ausfüllte (siehe Diego Gambetta: Die Firma der Paten. Die sizilianische Mafia und ihre Geschäftspraktiken. München, 1994). Analoges kann über fast alle Gründungssituationen mafiöser Strukturen gesagt werden, etwa über die russische Mafia, die in der chaotischen Zeit der Auflösung der Sowjetunion entstand.


Meine visionäre Alternative wäre eher die Bildung von transnationalen, demokratisch begrenzten Machtstrukturen („checks and balances“) mit einem Gewaltmonopol, die in der Lage sind, auch internationale Konflikte rechtlich zu lösen (wozu es all der inter- und transnationalen Institutionen bedarf, die Donald Trump gerade kaputt zu machen versucht, indem er die Mitgliedschaft der USA kündigt, falls sie ihnen denn je beigetreten sein sollten: WTO, WHO, Int. Gerichtshöfe, Pariser Abkommen usw.).


Aber vielleicht habe ich die Ideen Steffen Roths und Heiko Kleves ja vollkommen falsch verstanden. Ich habe, zugegebenermaßen immer Probleme damit, mir die Realisierung von sozialen Modellen vorzustellen, die auf einer abstrakten Ebene bleiben und nicht konkretisiert werden.


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).