feministisch-systemisch


Geschätzte Kolleg:innen,
Habt ihr euch auch schon manchmal gefragt, ob ihr eure professionelle Bezugnahme zu systemischen Ansätzen nicht besser an den Nagel hängen solltet? Man könnte sich stattdessen tiefenpsychologisch einarbeiten, vielleicht personenorientiert, hypnotherapeutisch oder gar behavioristisch oder integral, humanistisch oder transpersonal, aber überall dort sieht es in Sachen feministischer oder – sagen wir mal – herrschaftskritischer Perspektiven nicht viel erfrischender aus. Ganz und gar nicht.
Es gilt anzuerkennen: Psychologische oder psychotherapeutische Schulen und ihre theoretischen Grundlagen sind tief durchdrungen von patriarchalen Schemata der Wahrnehmung und sie tragen anständig viel, sogar auf perfide Weise dazu bei, dieses «inkorporierte Gewohnheitswissen»1 weiter zu verankern und in Umlauf zu halten.


Eine zentrale Rolle spielt allein schon «die Psychologie» meist als Expertin, strukturelle Bedingtheiten auf den inneren Bühnen von Individuen zu privatisieren und zu verantworten. Reaktionäre Vorstellungen von Bindung und Entwicklung, aber auch Ansprüche an Selbstentfaltung und Resilienz haben all das noch stabilisiert. Daran hat das rebellische Potential im Nachklang der 68iger Jahre nicht viel verändert, leider auch der systemische Ansatz wenig bis gar nichts. Neo-liberal-konservative Markt- und Morallogik haben selbst Soziales und Gesundheit so fest im Griff, dass Psychotherapie oder Beratung als gestaltende Wirkkräfte ziemlich ausgetrocknet erscheinen.
Oder, irre ich mich?


Vor einiger Zeit antwortete mir eine Kollegin Folgendes:
«Nach vielen Jahren Praxis und theoretischer Arbeit denke ich heute, dass es der Psychotherapie (und ganz besonders unserem systemischen Ansatz) ganz generell an emanzipatorischem Potential mangelt. Ich bin weiter am Nachdenken und Studieren, aber vom Engagement im Kontext der Psychotherapie habe ich mich mittlerweile verabschiedet.» Ich vermute, sie ist nur eine von vielen, denen es so geht. Und es geht nicht nur Frauen so.


Derweilen arbeiten wir, (bin ja nicht alleine :-)) im Hinter- und Untergrund weiter an systemisch-feministischen Rändern (zum Beispiel siehe Fotoverweis ) und da geschieht das Erfreuliche: unter dem Titel «Frauen führen besser» erscheint im Carl-Auer Verlag ein Buch von Ute Clement. Es ist ein dezidiert feministisch ausgerichtetes Buch. Unaufgeregt, freundlich, aber doch bestimmt votiert sie für gendergerechten Sprachgebrauch und für Frauenquoten. Sie thematisiert den Gender Pay Gap, soziale und psychologische Dimensionen der systemischen und systematischen Abwertung von Frauen, bringt Begriffe wie Mansplaining und Hepeating ins Spiel.
Das Buch will Sachverhalte thematisieren und besprechbar machen und wendet sich primär an Leser:innen, die sich nicht tagtäglich mit der Materie beschäftigen. Derer gibt es auch unter den Systemiker:innen eben viele.
«Es ist ein lang überfälliges Buch,» schreibt Fritz Simon, die Hebamme des Projekts, in seinem pointierten Vorwort. Über dieses Patronat eines feministischen Buches könnte man/frau sich mokieren, aber danach ist mir nicht. Es ist ein wichtiges, längst überfälliges Buch im «systemischen» Fachbuchraum.
Es erweitert den Möglichkeitsraum, sodass vielleicht in Zukunft in den Einführungstexten in Carl-Auers Fachbuchreihen nicht nur Autoren sondern auch Autorinnen oder Autor:innen vorkommen und dass vielleicht sogar darüber nachgedacht und diskutiert wird, welche Auswirkungen und Funktionen Literaturverzeichnisse haben, in denen Vornamen nur als Initialen vermerkt sind und in welcher Tradition sie stehen.


Vielleicht und hoffentlich steht "Frauen führen besser" für einen Drift hin zu feministisch-systemischen Debatten, feministisch-systemische Theoriebildungen oder auch einfach Geschichten und Methoden aus der Praxis, die das, was ist, also den Zustand des Gegenwärtigen, deutlich machen und ein «Entnormalisieren» von schlimmen Verhältnissen ermöglichen. Mit dem Essay zu «Fatalen Phantomen», der von einer Familie erzählt, in der Frauen als Abwaschmaschinen bezeichnet und noch viel schlimmer behandelt wurden, habe ich mit einer Geschichtensammlung aus der Praxis begonnen. Ich bin überzeugt, dass viele Kolleg:innen ebensolche Geschichten und andere Verknüpfungen in petto haben. Bitte erzählen!


Bis zu einer «Realisierung des Andersseins» ist es ein reichlich langer Weg, das wurde am diesjährigen SWF Forum vielfach beleuchtet. Dort nicht unbedingt aus feministischer Perspektive, aber zumindest auch nicht aus anti-feministischer :-). Dass auf dem Büchertisch vor Ort, neben «Frauen führen besser» auch Titel zu finden waren wie: «Die Erschöpfung der Frauen» von Franziska Schutzbach, «Die sexuelle Revolution» von Laurie Penny und «Wenn Männer mir die Welt erklären» von Rebecca Solnit, lässt noch mehr Idee aufkommen, dass sich auch in systemischen Fachkreisen etwas tut könnte.
Oder, irre ich mich?


Ich jedenfalls, geschätzte Kolleg:innen, freue mich über Austausch, über Diskurs und Response.


1 Diese passende Beschreibung habe ich im hörenswerten Vortrag von Frau Teresa Koloma Beck im Rahmen der diesjährigen SWF-Forum «Realisierung des Andersseins» gehört.

2 Foto: Fanny vom Galgenberg, gefunden 1988 bei Krems, Austria. 37000 Jahre alt, zählt gemeinsam mit der Venus vom Hohle Fels zu den ältesten Fundstücken der Frühgeschichte. Zu sehen im Naturhistorischen Museum, Wien. >> mehr zu lesen hier: Einladung zum Weltentanz.

3 .deutschlandfunkkultur.de/studio-9-der-tag-mit-teresa-koloma-beck-dlf-kultur-d49c7d7f-100.html

 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben.
Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Natur-Dialog Beratung, Systemischer Naturtherapie und Aufstellungsarbeit.
Sie ist Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches - das heisst auch für Öko-Systemisch-Feministisches.
Wirkt und schreibt, spricht in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand sowie über ihre persönliche Seite kreszmeier.org und als co-host des podcast sympoietics - Raum für Wechselseitiges.