Glühwein

„Und was machen wir jetzt?“, fragt mich mein Wein. Das heißt, nicht „er“ fragt mich, sondern ein Teil von ihm. Ich merke, dass er – obwohl inzwischen auf die Flasche gefüllt – mit der Situation nicht zufrieden ist. Ein Wein braucht auch in der Flasche noch einige Zeit, bis er sich beruhigt, haben mir Experten versichert. Aber zum einen mögen wir beide selbsternannte (Wein-)Experten nicht sonderlich, und zum anderen hatte mein Wein große Probleme, sich von seinem Fass zu trennen – aber ich wollte ja unbedingt ein bodenständiges Gewächs. Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir wohl beide jedwedem Teile-Konzept zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstehen.


„Ich habe den ganzen Umzug doch nur auf mich genommen, weil du mir in Heidelberg einen wohl temperierten Weinkeller, Treffen mit vielen Freunden und somit beste Bedingungen für meine weitere Identitätsentwicklung versprochen hast!“


„Gut“, antworte ich, „der Höhepunkt des Winters, die traditionelle Kellerbegehung mit den Handschuhsheimer Winzerfreunden, bei der du sicherlich hinreichend gewürdigt wirst, findet wohl erst zu Beginn des neuen Jahres statt. Und jetzt in der Vorweihnachtszeit sind die Freunde sehr beschäftigt. Aber wir könnten mal auf den Weihnachtsmarkt gehen, ihr Südfranzosen seid ja ganz wild auf winterliche Weihnachtsmärkte.“


Ich spüre, wie mein Wein noch unruhiger wird. „Als ob es bei euch an Weihnachten winterlich wird! Und wenn ich an die Versuche unseres Bürgermeisters denke, diese Märkte nachzumachen, dann erwartet uns neben Bratwürsten sicher auch dieses weinhaltige Getränk namens vin chaud, mit dem ihr unseren vin cuit oder etwa Muscat de Noel nicht annähernd erreichen könnt. Und selbst der gewöhnungsbedürftige Würzwein ist nicht eine Erfindung des kühlen Nordens, sondern hat seinen Ursprung wohl bei den Tempelrittern, nach denen unsere Genossenschaft benannt ist.“


„Das kannst du alles den Bekannten erzählen, die wir auf dem Weihnachtsmarkt treffen. Es gehört zu deiner Identitätsentwicklung, dass du argumentieren lernst.“


„Schon gut. Aber wenn du mich ohne meine Zustimmung einfach mit diesen erwärmten weinhaltigen Getränken vermischst, dann werde ich echt sauer!“


„Ich hoffe sehr im Sinne unserer Freundschaft, dass dieser Geruch deine Sinne beleidigt“, sagt mein Wein, als wir auf dem Marktplatz ankommen. „Zimt, Nelken, Orangen – wie kannst du meine reine Seele würdigen, wenn du in der Vorweihnachtszeit alle Reinheitsgebote vergisst?!“


„Ich habe sie nicht vergessen“, sage ich. „Ich könnte mir aber vorstellen, dass wir durch Wahrnehmung des Gegensatzes deine natürliche Aromenentwicklung nur noch intensiver würdigen können. Zuerst hier mit vielen Zusatzstoffen und später bei den Weinfreunden in der unverstellten eigenständigen Entwicklung.“ Mit diesen Worten haben wir uns einem Marktstand genähert, und es ist unvermeidlich, dass wir an alten Bekannten nicht vorbeikommen.


„Hast du gerade mit dir selbst gesprochen?“, fragt ein ehemaliger Studienfreund, ehemaliger Philosophiestudent und ehemaliger Taxifahrer. „Wenn ich dich recht verstanden habe, wolltest du jemandem gerade am Beispiel des Glühweins dialektisches Denken erklären.“ – „Goethe!“, ruft ein Tischnachbar mit sonorer Stimme ins weite, wenn auch durch zahlreiche Schwaden vernebelte Rund: „Der Glühwein ist ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“


Es ist der emeritierte Literaturwissenschaftler, der gerne noch Vorträge zu seinen Lieblingsautoren hält und sich dabei seiner Stimmgewalt, seiner gewichtigen Erscheinung, aber auch seiner korrekten Zitierweise stets bewusst ist.


„Oder eben einer, der stets das Gute will und stets das Böse schafft“, entgegnet der ehemals taxifahrende Philosoph. „Das hängt davon ab, wie der Glühwein produziert wurde und wie anregend der heutige Abend weiterhin für uns verläuft.“


„Im Zauberberg und bei Effi Briest führt er immerhin zu erotischen Abenteuern – entscheide jeder für sich, ob nun das Gute oder das Böse die Folge ist.“ Der Emeritus kann es nicht lassen, sein immenses literarisches Wissen mit der Geste des Beiläufigen in die Runde zu geben.


„Mon Dieu!“, seufzt mein Wein. „Kann es sein, dass erhitzter Wein auch die Gemüter übermäßig erhitzt? Bitte lass mich nicht aus der Manteltasche!“


„Unsere einschlägige Punsch-Literatur beflügelt bestenfalls die Fantasie“, beruhige ich ihn. Ein anerkennender Blick des Emeritus streift mich.


„Wo doch heute das Unwort des Jahres gekürt wurde!“ Mein ehemaliger philosophierender Studienfreund nippt bedeutsam an einem Becher Glühwein. „Wie wäre es einmal in der Vorweihnachtszeit mit der Wahl zur Unfrage des Jahres? Ich hätte da einen Vorschlag, der das Dilemma unserer zwischenmenschlichen Kommunikation so recht verdeutlichen könnte.“


„Nun sag, wie hast du’s mit dem Glühwein? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Schon wieder wird Goethe nahezu korrekt zitiert.


„Die Frage meine ich nicht. Mein Vorschlag bezieht sich auf eine Frage, die auf wunderbare Weise Distanz und wohlmeinendes Interesse an unseren Mitbürgern umschließt: ‚Ach ja, aber ich meinte, wo kommen Sie denn ursprünglich her? Sie sind doch eigentlich nicht von hier.‘“


„Mensch, werde eigentlich! Das ist nun so ähnlich von Gryphius und nicht von Goethe. Doch bleiben wir lieber bei der heute wichtigeren Frage: Wo kommt denn eigentlich der Glühwein her? Schiller hat ihn schon besungen, also kannte Goethe ihn wohl auch. Zumindest der Punsch war ihm vertraut, wie wir aus einem Tagebucheintrag von Adele Schopenhauer, der Schwester des Philosophen, wissen: ‚Neulich habe ich einen Schmerz gehabt. Goethe kam von Berka, einige Gläser Punsch und die Frühlingsluft nahmen ihm alle Besinnung. Ich sah ihn in einem furchtbaren Zustande. Nie werde ich es vergessen.‘“


„Also doch ein Teil der Kraft, die Böses schafft!“, sagt mein Wein mehr zu sich selbst. „Für mich ist keine Frage, wo der Glühwein eigentlich herkommt. Auch wenn dein Emeritus gleich den Ursprung des Getränks in Schweden (Glögg) bzw. im Sachsen des 16. Jahrhunderts verorten wird und das älteste noch vorhandene Glühweinrezept von Goethes Zeitgenossen, dem Raugraf Wackerbarth, vom 11. Dezember 1843 datiert. Ich erwarte von dir, dass du den Einfluss der südfranzösischen Tradition auf die vin cuit und die Gewürzweine an diesem Glühweinstand mit Nachdruck vertrittst! Schließlich bist du auch Mitglied der Kooperative der Tempelritter!“ Ich spüre, wie sich mein Wein in der inneren Manteltasche echauffiert.


„Die Leute müssten nur in meinem Buch Der Coach im Weinberg nachlesen, was ich über Arnau de Villeneuve geschrieben habe und den Ursprung gewürzter Weine aus dem Morgenland“, versuche ich zu mäßigen. „‚Hier ist des Volkes wahrer Himmel‘, um mal euren Dichterfürsten zu zitieren, hier wird verhandelt, wo er denn eigentlich herkommt.“


Dies sind Stichworte für den Emeritus: „Johann August Wackerbarth – durch dieses Rezept ist er der Nachwelt überliefert. Ansonsten war er ein nur mittelmäßiger Schriftsteller. Er hat mehrfach Goethe angeschrieben und versucht, sich in Erinnerung zu bringen – vergeblich. Das Genie von Weimar teilte die Meinung des Cotta’schen Morgenblatts für gebildete Stände, das Wackerbarths Werke als ‚literarische Merkwürdigkeiten‘ bezeichnete.“


„Man kann eben auf sehr unterschiedliche Weise unsterblich werden“, sagt der Taxifahrer. „In ihrer Liebe zum (Glüh-)Wein hätten sich wohl beide gefunden: ‚Wenn man getrunken hat, weiß man das Rechte‘, sagt euer Dichtergenie.“


„Jetzt bist du dran!“. Ich spüre, wie mein Wein mich anstupsen will. „Das ist ein Zitat aus dem West-Östlichen Divan: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident’ – wenn du weißt, was ich meine.“


Ich gebe mir einen Ruck: „Wer gewürzten Wein als Erster warm getrunken hat, das werden wir wohl nie herausbekommen …“


„Wir sprechen hier von diesem weinhaltigen Heißgetränk“, unterbricht mich mein Wein. „Das kann nur eine Erfindung nördlich der Alpen sein.“


„Über gewürzten Wein“, hole ich aus, „der zur besseren Verarbeitung der Kräuter auch erhitzt wurde, berichten bereits die alten Griechen und die Römer. Da ihm eine medizinische Wirkung zugesprochen wurde, gibt schon Plinius der Ältere Rezepte zu seiner Herstellung wieder. Einer dieser Weine hieß auch bis ins Mittelalter noch Hypocras, um an die griechische Tradition des Hippokrates und die Verwendung als Nahrungs- und Heilwein zu erinnern. Und auch aus dem von Goethe beschworenen Orient gibt es nicht erst seit dem Mittelalter Hinweise auf gewürzte und erhitzte Weine. Auch der persische Dichter Hafis, den Goethe im West-Östlichen Divan feiert, beschreibt die heilende Kraft solcher Weine. Und die Tempelritter, die in Südfrankreich einiges für den Weinbau getan haben, brachten die Tradition gewürzter und angereicherter Weine zurück in die mediterranen Länder. Einer von ihnen, Arnau de Villeneuve, ein Philosoph, Theologe und Mediziner, der später Rektor der Universität Montpellier wurde, avancierte dank dieser Wunderweine zum Leibarzt von Päpsten und Königen. Und da er nicht nur eine undogmatische Einstellung zu seinem Glauben hegte, sondern auch mit seiner umfassenden Bildung als Vermittler politischer Konflikte respektiert wurde, konnte er zahlreiche Inquisitionsverfahren erfolgreich und unter dem Schutz des Papstes abwehren.


Womit wir wieder beim persischen Dichter Hafis wären. Auch er, ein Zeitgenosse Arnaus, entging aufgrund seiner Aufforderungen zum weltlichen Lebensgenuss, mehr noch aber durch seine Kritik religiöser Scheinheiligkeit, des Öfteren der Fatwa und überlebte als Hofdichter zahlreiche Anfeindungen. Sein Name weist ihn als gelehrten Menschen aus: Hafis bedeutet ‚Kenner des Koran‘, einer, der den gesamten Koran gelernt und auswendig zitieren kann. Dies soll der Hafis des West-Östlichen Divans bereits mit acht Jahren gekonnt haben.


Es sind aber nicht nur das umfassende Wissen und die Liebe zum (auch gewürzten) Wein, die eine Nähe zu Arnau herstellen. Beide sehen die Einengungen durch die strikte Auslegung ihrer heiligen Schriften. Obwohl beide zutiefst religiös, stehen bei ihnen menschliches Lebensglück, der Glaube an die Menschen und an die Natur, Aufklärung und ein Streben nach Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen im Vordergrund.


Arnau hat nicht nur das Aquavit und die Vorläufer des Glühweins und des Jägermeisters erfunden, er hat nicht nur mithilfe der Gewürzweine den Papst von seinen Nierensteinen befreit, er richtete in seiner Beratertätigkeit bei Friedrich II. auf Sizilien auch Schulen ein, in denen die über das Mittelmeer geflüchteten Menschen auf eine neue Heimat vorbereitet werden sollten. Seine umfassenden Kenntnisse ‚orientalischer‘ Sprach- und Lebensgewohnheiten – er übersetzte beispielsweise Avicenna aus dem Persischen und Galen (zurück) aus dem Arabischen – bestärkte ihn in seinem Einsatz für Toleranz und Mitmenschlichkeit.“


„Hier möchte ich dann doch einmal ergänzen“, unterbricht mich der Emeritus. „Goethe hat Hafis ja nicht von ungefähr als seelenverwandt für sich entdeckt. Auch er war trink- und bibelfest. Aber neben diesen beiden Fähigkeiten begeisterten den Geheimrat die kulturübergreifenden aufklärerischen Schriften Hafis’, die sich nicht zuletzt aus einem umfassenden Verständnis der zugrunde liegenden ‚heiligen‘ Schriften ableiteten. Goethe wie Hafis erkannten die Gefahren einer dogmatischen Interpretation überlieferter Schriften, sie erkannten auch die immanente dialektische Kraft des ‚Gutes wollen und Böses schaffen‘, die die Texte durchzieht. So schreibt Goethe am 10. November 1810 in sein Tagebuch: ‚Das gefährlichste aller Bücher in weltgeschichtlicher Hinsicht, wenn durchaus einmal von Gefährlichkeit die Rede sein sollte, ist doch wohl unstreitig die Bibel, weil wohl kein anderes Buch so viel Gutes und Böses im Menschengeschlecht zur Entwicklung gebracht hat.‘


Zwei Jahre später erschien dann die vollständige Übersetzung von Hafis’ Werken, und gleich sieht Goethe in dem 500 Jahre älteren Dichter seinen Zwillingsbruder, der ihm in seinem literarischen Anspruch, aber auch in seinem Menschenbild, seinem Glauben und seinem Streben nach Menschlichkeit ähnelt. Und er erkennt, über die Jahrhunderte und über die räumliche Entfernung hinweg, die gemeinsame Verpflichtung aller Menschen und Kulturen, die Schöpfung zu erhalten. In der Auseinandersetzung mit den Schriften von Hafis werden ihm die gemeinsamen Interessen und Strebungen vordergründig unterschiedlicher Kulturen deutlich:


‚Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.‘


Aber ihm wird auch bewusst, dass es nicht genügt, sich mit dieser Situation abzufinden, sondern dass sich die tagtäglichen Zweifel und Widersprüche, die sich daraus ergeben, vielleicht überwinden lassen, wenn man nicht eine benevolente Integration, sondern eine Synthese, eine Inklusion gemeinsamer kultureller Möglichkeiten, versucht.


Und so schreibt er in seinem Nachlass:
‚Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Sinnig zwischen beiden Welten
Sich zu wiegen laß ich gelten:
Also zwischen Ost- und Westen
Sich bewegen sei zum Besten!‘“


Mein Wein wird etwas unruhig und er flüstert mir zu: „‚Allein der Vortrag macht des Redners Glück.‘ Jetzt sag du doch auch mal was zu unserem Arnau!“


Ich bin froh, dass er nur Faust zitiert und nicht die bekannteste Stelle aus dem West-Östlichen Divan, also sage ich: „Wir sollten nicht unser Gespräch über Glühwein vergessen, vielleicht sind es ja die wahrhaft weisen Weinkenner, denen dieses sinnige Wiegen zwischen den Welten gelingt. Arnau de Villeneuve vertrat in seinen – auch den ketzerischen – Schriften ähnlich inklusive Positionen. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, in den Schulklassen, die er auf Sizilien einrichten ließ, die Anbringung von Kreuzen oder auch nur ein Bekenntnis zu christlichen Werten oder sizilianischen Leitbildern zu fordern.“


„Habe nun, ach, auch Philosophie und Theologie studiert“, meldet sich ein jüngerer Besucher des Weihnachtsmarkts, der sich offensichtlich ein bisschen Mut angetrunken hat. „Wir können doch die kulturellen Besonderheiten nicht ganz unter den Tisch kehren! Eigentlich darf man im Orient doch keinen Wein trinken, das hat Mohammed doch wohl verboten!“


„Oh Gott“, mein Wein wird unruhig, „schon wieder so ein ‚eigentlich‘! Ich dachte, ihr würdet in der Vorweihnachtszeit bestenfalls wichteln. Dass ihr jetzt auch noch prechtelt, hätte ich nicht gedacht.“


Der ehemals taxifahrende Studienfreund versucht die Situation zu retten: „Worüber sprechen wir denn hier eigentlich? Wo und was ist denn der Orient? Das ist doch gar kein geografisch und kulturell wohldefinierter Begriff! Wie neulich Kathrin Wittler, die Literaturwissenschaftlerin von der Freien Universität, in ihrem Vortrag Orient als Zauberwort? Zur deutsch-jüdischen Geschichte eines Begriffs ausgeführt hat, ist es ein Fantasieort, der allerdings häufig auch als Bezeichnung für bestimmte Länder gebraucht wird, um ein Anderssein, z. B. zum Okzident, zu betonen: ‚Der Orient als Begriff setzt nicht nur Bilder und Lieder, Träume und Assoziationen frei. Er legitimiert auch Machtansprüche und Ausbeutungen. Er suggeriert Überlegenheit und sichert die Grenzen zwischen dem eigenen und dem anderen.‘ Kein Wunder, dass Goethe im Divan versucht, Orient und Okzident wieder zusammenzubringen!“


„Und schon im Faust“, meldet sich der Emeritus wieder zu Wort, „karikiert unser Dichterfürst eine schon damals vorherrschende bourgeoise Haltung:


‚Bürger:
Nichts bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
wenn hinten, weit in der Türkei,
die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus
Und segnet Fried und Friedenszeiten.
Zweiter Bürger:
Ach ja Herr Nachbar, ja, so laß ichs auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
mag alles durcheinandergehn:
Doch nur zu Hause bleibs beim alten!‘“


„Da reden die Nachbarn ja noch friedlich ohne Hass und Hetze miteinander“, werfe ich ein. „Aber wenn wir all das Ernst nehmen, ist der Orientale ja jeder Nachbar von uns, der etwas weiter östlich steht. Der Großinquisitor, der Arnau de Villeneuve belangen wollte, kam ‚ursprünglich‘ aus Collioure, dem Nachbarort der Tempelritter. Und in dieser Gegend ist noch heute jeder, der aus einem östlich, westlich, nördlich oder südlich gelegenen Dorf kommt, ein garbadge, ein Fremder, so dass in bester Divan-Tradition eigentlich jeder des anderen garbadge ist.“


„Grad wie hier in Handschuhsheim, wo der Eingeborene ja schon an der Sprache erkennt, wo der andere denn ‚ursprünglich‘ herkommt“, ergänzt der Taxifahrer.


„Dann lasst uns doch das Glas auf die Vielfalt der Weine erheben und das genießen, was uns vor Ort präsentiert wird!“ Der Emeritus möchte mal wieder das letzte Wort haben. „Der West-Östliche Divan wird nun 205 Jahre alt – der Glühwein ist, wie wir jetzt wissen, schon deutlich älter. Man muss ihn nicht mögen, aber man sollte die Gelegenheiten, zu denen er ausgeschenkt wird, nutzen, um im Gespräch zu bleiben – auch über die verbindende Kraft von Literatur, wie sie im West-Östlichen Divan vorliegt.“


Mein Lieblingslektor erwartet von mir, dass ich mindestens einmal im Blog einen Kalauer mache. Um ihn nicht zu enttäuschen – und falls er den anderen nicht mitbekommen hat –, ergänze ich stumm: „Hoffen wir, dass keiner den West-Östlichen Divan mit den roten Plüschsofas verwechselt, die auf der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai dazu dienten, die Teilnehmer zu alter Bequemlichkeit einzuladen und gegensätzliche Interessen vorschnell zu verwischen …“


„Ich verabschiede mich für heute, mir steigt der Glühwein zu Kopf, mit einem Zitat aus dem Divan“, ruft der Emeritus in die Runde:


‚Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten!


Bleibt in euren Hütten, euren Zelten!‘“


„Oh Gott, er kann’s nicht lassen“, sagt mein Studienfreund. „Und in dem Zustand will er auch noch Fahrrad fahren!“


„Danke“, sagt mein Wein zu mir, als wir uns auf dem Heimweg befinden, „dass du mich nicht geöffnet und gut im Mantel versteckt hast! Ich hoffe, dass bei der Kellerbegehung im neuen Jahr weniger geredet und mehr reiner Wein eingeschenkt wird.“


„Letzteres kann ich dir versprechen“, antworte ich und spüre, wie wohl mir in seiner Gesellschaft ist, als wir auf dem Heimweg versuchen, diese besondere Duftmischung aus Bratwurst, gebrannten Mandeln und Glühwein aus den Kleidern zu bekommen. „Du sollst dich ja dann auch unverstellt präsentieren können. Es werden einige umgängliche garbadges kommen, sogar aus Rohrbach und Heppenheim. – Und ich möchte mich bedanken“, ergänze ich, „dass du nicht laut das wohl bekannteste Zitat aus dem Divan zitiert hast, als du uns zuhörtest. Ich habe gemerkt, dass es dir mehrfach auf der Zunge lag.“


„Dann kann ich es ja jetzt sagen, wo wir unter uns sind: ‚Getretener Quark wird breit, nicht stark.‘“