Family Compliance – oder: Die Regeln, um die Regeln zu regeln

Der zwölfte Schritt der WIFU-Familienstrategieentwicklung


Regeln sind Strukturen von sozialen Erwartungen, die das Verhalten und Handeln von Personen orientieren. Das Ergebnis einer Familienstrategieentwicklung sind Regeln, die bestenfalls mit so vielen Familienmitgliedern wie möglich entwickelt werden, die als mitverantwortlich gelten für die transgenerationale Sicherung des Unternehmertums. Diese Regeln werden schließlich in einer Familienverfassung festgehalten, die als sozio-moralische Basis des Familienzusammenhalts und der Familienverantwortung für das transgenerationale Unternehmertum bewertet werden kann. Wie durch die Darstellung aller bisherigen elf Schritte der Familienstrategieentwicklung deutlich wird, ist der Prozess selbst, der am Ende eine Familienverfassung als Produkt hervorbringt, ebenso wichtig wie die in der Verfassung versammelten Regeln. Denn durch diesen Prozess transformiert sich eine Familie eines Familienunternehmens zu einer sich ihrer besonderen Konstitution bewusst gewordenen Unternehmerfamilie.


Was aber geschieht, wenn die Regeln oder einzelne davon missachtet werden, wenn Familienmitglieder die getroffenen Vereinbarungen nicht einhalten?


Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns zunächst bewusst machen, dass wir in Familien, wie in allen anderen sozialen Systemen, drei Regelebenen unterscheiden können, die es bei Regelbrüchen zu untersuchen gilt.[1] Möglicherweise liegt der Grund für den Regelbruch darin, dass sich die regelverletzende Person mit einer „tieferliegenden“ Regelebene verbundener fühlt, als mit den Regeln der Familienverfassung. Um dies nachzuvollziehen, ist es zunächst ratsam, die erwähnten drei Regelebenen zu differenzieren, was die folgende Systematik ermöglicht:



  • Formale Regeln: Die offensichtlichste Regelebene ist jene, zu welcher die Familienverfassung, also der in der Familienstrategieentwicklung erarbeitete Regelkatalog gehört. Diese formale Regelebene meint alle bewusst geschaffenen Regeln, die in den Schritten der Familienstrategieentwicklung erarbeitet und fixiert wurden.

  • Informale Regeln: Nicht so offensichtlich und „unter“ den formalen Regeln liegende Prinzipien können als informal charakterisiert werden. Hiermit sind soziale Erwartungsstrukturen gemeint, die sich innerhalb sozialer Systeme ungeplant, gewissermaßen in spontaner Ordnungsbildung etabliert haben und das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder orientieren.

  • Elementare Regeln: Diese Regeln beziehen sich auf Erwartungsstrukturen, die sich in der Evolution sozialer Systeme (also im historischen Zeitverlauf) offenbar als entwicklungsfördernd erwiesen haben und daher immer wieder erneut regenerieren. Sie reichen in ihrer Genese vermutlich bis in die Sippengesellschaft zurück und regeln seit dieser Zeit das Zusammenleben von Menschengruppen.


Wenn nun die formal in der Familienverfassung festgelegten Regeln verletzt werden, dann stellt sich die Frage, ob dies Hinweis darauf sein könnte, dass sich Widersprüche zwischen den formalen und den informalen oder auch den elementaren Regeln mit dieser Regelverletzung offenbaren. Könnte es sein, dass das regelverletzende Familienmitglied eher den informalen oder den elementaren Regeln folgt? Diese Frage sollte in einem entsprechenden Reflexionsprozess thematisiert und hypothetischen Antworten zugeführt werden, aus denen mögliche Handlungsschritte hinsichtlich der regelverletzenden Person abgeleitet werden können.


Informale Regeln könnten so stark sein, dass es Menschen, die sich lange Zeit daran orientiert haben, schwerfällt, diese zugunsten von neuen formalen Regeln aufzugeben. Bestenfalls werden Widersprüche zwischen bisher implizit geltenden informalen Regeln und den neuen formalen Regeln im Rahmen der Familienstrategieentwicklung transparent gemacht und besprochen. Das Ergebnis einer solchen Thematisierung könnte sein, dass die formalen Regeln angepasst werden, oder dass alle Beteiligten sich darauf einigen, die bisher geltenden informalen Regeln aufzugeben und die neu vereinbarten formalen Regeln nicht nur zu implementieren, sondern durch das eigene Handeln einzuüben. Freilich kann es dabei zu „Rückfällen“ kommen. Lange etablierte Regeln durch neue zu ersetzen, kann eine Zeitlang dauern, setzt einerseits Disziplin im Beachten der neuen Regeln, aber andererseits auch Toleranz voraus, weil es auf dem Weg zur Etablierung der neuen Regeln immer mal wieder zu Zurückfallen in die alten informalen Regeln kommen kann.


Elementare Regeln sind diesbezüglich gewichtiger, weil sie kaum zu verändern sind. Denn sie prägen die Grundstruktur von Erwartungen in sozialen Systemen und sollten daher prinzipiell beachtet werden. Da wir von dieser „Stärke“ der elementaren Regeln ausgehen können, sind die formalen Regeln bestenfalls kompatibel mit den elementaren. Sollte das nicht so sein, könnten spätestens Regelverletzungen auf dieses Missverhältnis der elementaren und formalen Regeln hinweisen. Dann gilt es, die formalen an die elementaren Regeln anzupassen, um den Widerspruch zwischen den Regelebenen aufzulösen.


Die elementarten Regeln können in sechs Prinzipien zusammengefasst werden:



  1. Zugehörigkeit: Soziale Systeme regeln ihre Grenzen nach innen wie außen durch die Eindeutigkeit der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder. In Unternehmerfamilien sollte klar sein, wer zur Familie und wer zur Unternehmerfamilie gehört. Dies wird insbesondere im zweiten Schritt der Familienstrategieentwicklung thematisiert. Unklarheiten der Zugehörigkeit, also der entsprechenden Mitgliedschaften können unterschiedliche Probleme, etwa hinsichtlich der Informationsweitergabe, der gegenseitigen Erwartungen, der Verantwortungsübernahme, der Loyalitäten etc., hervorrufen.

  2. Reziprozität: Mit der Klarheit der Zugehörigkeit gehen Reziprozitätserwartungen einher: Was wird von Mitgliedern an Leistungen für das System erwartet, was müssen sie also geben (Pflichten); und was können sie (an Rechten in Anspruch) nehmen? Der Ausgleich von Geben und Nehmen regelt gewissermaßen den „Energiefluss“ zwischen dem System und seinen Mitgliedern. Zu viel oder zu wenig an „Energie“ kann hier zu unterschiedlichen Problemen führen.

  3. Seniorität: Soziale Systeme etablieren sich zeitlich. Das bedeutet, dass die Systemmitglieder mit einer längeren Mitgliedschaft den Mitgliedern mit einer kürzeren Systemzugehörigkeit strukturell vorgeordnet sind. Wenn neue Systemmitglieder dazu kommen, sind diese also – umgekehrt gesagt – den „alten“ Mitgliedern nachgeordnet. Dies geht beispielsweise auch mit einem Unterschied im Einfluss einher; dieser ist bei den „älteren“ Mitgliedern höher als bei den „jüngeren“ – wobei „alt“ und „jung“ nicht das biologische Alter meint, sondern die Mitgliedschaftsdauer fokussiert. Die Nichtbeachtung der Seniorität kann in Unternehmerfamilien deren Traditionsorientierung infrage stellen und damit auch die gegenwärtige Stabilität gefährden.

  4. Zukunftsorientierung: Soziale Systeme entwickeln sich bestenfalls auf der Basis der vergangenen Prozesse in Richtung auf die Zukunft. Das bedeutet, dass das gegenwärtige Handeln der Systemmitglieder dazu in der Lage, den aktuellen und weiteren Systembestand zu sichern. Priorität haben also die Gegenwart und die Zukunft vor der Herkunft aus der Vergangenheit. Das setzt jedoch zunächst voraus, dass die Vergangenheit und deren Repräsentanten anerkannt und integriert werden (Seniorität als 3. elementare Systemregel), so dass sich auf dieser Basis die Innovationen für die Zukunft entwickeln können.

  5. Leistungsorientierung: Soziale Systeme entfalten sich durch die Leistungen ihrer Mitglieder. Und diese Leistungen wollen gesehen und gewürdigt werden, etwa dadurch, dass die Leistungsträger einen ihrer Leistung angemessenen Einfluss im System erhalten. Leistungsbereitschaft erodiert, wenn diese Anerkennung nicht gezollt wird, was freilich problematisch ist und den Erhalt des Systems gefährden kann.

  6. Fähigkeitsorientierung: Systemmitglieder sind individuell, d.h. sie sind je einzigartig und damit unterschiedlich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Potentiale. Je besser es sozialen Systemen gelingt, diese Unterschiedlichkeit in und für das System zu integrieren, desto nachhaltiger ist der Systemerhalt gesichert. Denn dieser lebt davon, dass sich die Mitglieder mit ihren Möglichkeiten für den Bestand und die Entwicklung des Systems einbringen.


Zusammenfassend formuliert, sollte es zur Verletzung der formalen Systemregeln kommen, so ist es empfehlenswert zu prüfen, ob die Nichtbeachtung elementarer Systemregeln hier eine Rolle spielt. Wenn es eine Unternehmerfamilie schafft, ihre Familienstrategieentwicklung und damit ihre Familienverfassung in Einklang mit den elementaren Systemregeln zu bringen, so ist ein wichtiges Fundament gelegt, das das transgenerationale Unternehmertum zugleich traditions- wie innovationsorientiert sichert.


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[1] Vgl. grundsätzlich dazu Heiko Kleve (2019): Dynamiken in wachsenden Unternehmerfamilien. Die Macht elementarer Systemregeln für Zusammenhalt und Kommunikation. Praxisleitfaden. Witten: WIFU Stiftung. Siehe ausführlich auch: Heiko Kleve (2020): Die Unternehmerfamilie. Wie Wachstum, Sozialisation und Beratung gelingen. Heidelberg: Carl Auer.