Nur die Palästinenser können die Hamas besiegen...

Eigentlich scheue ich mich ja, aus meiner Sofa-Perspektive darüber zu philosophieren, was die Israelis und Palästinenser tun könnten oder sollten. Zum einen gibt es ja nicht „die“ Israelis oder „die“ Palästinenser als geschlossene Gruppen und sie fungieren nicht kollektiv jeweils als „ein“ Akteur; zum anderen, weil das, was sie tun sollten/könnten, davon abhängt, was ihre Ziele sind. Vor allem aber: Wer bin ich denn, dass ich hier – aus meiner sicheren TV-Perspektive heraus – Ratschläge erteilen könnte?


Auf der anderen Seite beschäftige ich mich seit mehr als 20 Jahren mit der Systemtheorie des Krieges, was – wie Wissenschaft generell – aus der Außenperspektive erfolgt und erlaubt, Muster der Kommunikation zu beschreiben, die Kriege generell charakterisieren.


Beginnen wir bei den drei wichtigsten Erkenntnissen/Prämissen:


1. Kriege sind Konflikte, bei denen beide Seiten ihre Existenz, d.h. ihr Überleben riskieren (was nicht heißt, dass sie es in jedem Fall tun müssten).
2. Eskalationen erfolgen, wenn die aggressiven und schädigenden Aktionen der einen Partei durch aggressive und schädigende Aktionen der anderen Partei beantwortet werden, worauf die eine Partei wiederum ... usw. Das Problem bei solch einer Eskalationsdynamik ist, dass ein Muster etabliert wird, bei dem nicht mehr objektivierbar ist, wie/wer es begonnen hat, so dass die Frage nach der Schuld zum Teil der Kriegführung wird. Es sind auch Muster, die sich dieser Logik folgend selbst perpetuieren.
3. Ideen lassen sich nicht durch die Anwendung von Gewalt vernichten, d.h. einen Krieg kann man nur gegen eine vernichtbare Einheit (z.B. eine Gruppe von Menschen, ein soziales System, einen Staat o.Ä.), aber nicht gegen Abstrakta, einen Glauben, eine Ideologie, „die“ Drogen usw. gewinnen.


Dies vorausgesetzt, meine eigene Position in Bezug auf den aktuellen Krieg in Palästina: Das Massaker vom 7. Oktober war von einer bis dahin kaum vorstellbaren Grausamkeit, Widerlichkeit und Unmenschlichkeit: ein Zivilisationsbruch, für den es keinerlei Rechtfertigung gibt. Punkt. Ausrufezeichen! Hier gehört m.E. Israel die volle Solidarität aller zur Empathie fähigen Menschen.


Dennoch stellt sich aus systemtheoretischer Perspektive die Frage, ob es wirklich sehr intelligent von der israelitischen Regierung war, mit einer Offensive in Gaza zu antworten (auch wenn eventuelle Racheimpulse nachvollziehbar sind, wie auch die Idee, die Hamas müsse besiegt werden). Denn damit hat der Staat Israel die „Einladung“ zur Eskalation angenommen, die – kaum ablehnbar – von der Hamas durch ihr Abschlachten unschuldiger Menschen gesandt wurde. Wie sich zeigt, wurde damit der Kreis der Mitspieler weltweit ausgedehnt auf Sympathisanten der einen oder anderen Seite... Das menschenverachtende Kalkül der Hamas dürfte damit aufgegangen sein.


Was wäre eine Alternative gewesen, die sich aus systemtheoretischer Perspektive ergibt, wenn man die Eskalation hätte vermeiden wollen (was – wie mir scheint – ja nicht das Ziel der israelischen Regierung war und ist, was aber im Blick auf die Zukunft Israels wahrscheinlich weise gewesen wäre).


Auf das grausige Massaker von 7. Oktober hätte Israel die ins Land eingedrungenen Hamas-Terroristen suchen und ausschalten (d.h. töten, festnehmen, was immer) können, den Grenzzaun wieder neu herstellen und sichern können und dann mit den Verhandlungen um die Geiseln beginnen können – am besten durch Einschaltung Dritter (der Qataris, der Ägypter, wer immer dazu bereit und von beiden Seiten akzeptiert worden wäre).


Israel hätte die Bilder des Massakers weltweit zwecks Gewinn von Sympathien verbreiten können, um so Verbündete auf der Weltbühne zu finden. Auf jeden Fall hätte es die moralische Oberhand gewonnen und/oder behalten.


Wichtig wäre bei solch einer Strategie zur Eskalationsverhinderung: Sich selbst sichern, aber keine offenen aggressiven Gegenschläge vollziehen. Das hätte nicht ausgeschlossen, dass sich der Geheimdienst daranmacht, Hamas-Führungskräfte zu liquidieren (was er ja früher auch schon getan hat), aber wichtig wäre gewesen, zivile Opfer zu vermeiden...


Von zentraler Bedeutung ist in solch einer Situation – ich kann das hier verallgemeinern – die folgende Logik des Geschehens: Wer zu einer Eskalation „eingeladen“ wird, d.h. sich selbst emotional oder meinetwegen auch objektiv begründet als „reagierend“ definiert, co-kreiert ein Muster der perversen Gegenseitigkeit, da beide Konfliktparteien dasselbe tun. Es bildet sich ein autopoietisches System, genannt Krieg, das sich selbst am Leben erhält, wobei/weil jeder sich als Opfer definiert, das lediglich reagiert, sich verteidigt, schützt. Aber das stimmt nicht, denn es schützt sich nicht nur, sondern es greift auch an...


Quintessenz: In solch einer Situation darf man nie (!!!) vergangenheitsorientiert denken und agieren. Man muss (!!!) zukunftsorientiert denken/handeln, d.h. sich entscheiden, welche Zukunft man anstrebt oder verhindern will, und dann zielgerichtet handeln.


Wenn man die o.g. Prämisse akzeptiert, dass die Hamas nicht durch Waffengewalt zu besiegen ist, weil die Idee, Israel ins Meer zu werfen, auf diese Weise nicht aus der Welt zu schaffen ist, dann muss man sehen, wie man die Hamas auf andere Weise unschädlich machen kann.


Aus der Theorie autopoietischer Systeme heraus ist zu sagen, dass die Hamas als Element des sozialen Systems „Gaza“ oder auch „Community der Palästinenser“ nur durch die Palästinenser selbst besiegt, d.h. entmachtet, werden kann. Was immer Israel tut, ist eine Irritation durch eine Umwelt, auf die das System Gaza strukturdeterminiert, d.h. den eigenen internen Regeln folgend, reagiert. Die Strategie hätte also darauf zielen müssen bzw. müsste langfristig darauf ausgerichtet sein, den Widerstand gegen die Hamas unter den Palästinensern wahrscheinlicher zu machen bzw. die Opposition gegen sie zu stärken. Angesichts des Massakers haben zwar viele Palästinenser gefeiert, aber das dürfte nur eine Minderheit gewesen sein. Die große Mehrheit dürfte sich dem nicht angeschlossen haben...


Nun aber, ist die Situation anders, und Israel versucht die Repräsentanten einer Idee zu vernichten, schafft aber paradoxerweise gerade dadurch neue Repräsentanten für diese Idee. Intelligent ist das sicher nicht – einer moralischen Bewertung enthalte ich mich hier, da es mir nicht um Fragen der Moral geht. Ich versuche lediglich Systemdynamiken zu analysieren.


Die Zukunft Israels dürfte jedenfalls durch die aktuell laufende Bodenoffensive nicht sicherer geworden sein.


Wie könnte es nun weitergehen, zukunftsorientiert gefragt, angesichts der Tatsache, dass sich die israelische Regierung anders entschieden hat, als von mir entworfen?


Israel wird im optimalen Fall im Laufe von Wochen und Monaten die physische Infrastruktur der Hamas – die Tunnel unter der Stadt – zerstören. Dass die Geiseln überleben, scheint mir unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich, wenn die Hamas noch irgendwelchen Vorteil darin sieht, sie als Verhandlungsmasse zu behalten. Die Hamas wird jedenfalls nicht vernichtet werden, die Weltöffentlichkeit wird das Massaker am 7. Oktober vergessen oder relativieren angesichts der toten Kinder in Gaza. Die Stadt wird zum Trümmerfeld... Und jetzt stellt sich die Frage, was zu tun ist. Die Antwort auf diese Frage lasse ich hier mal offen, da mir im Moment die Phantasie fehlt, mit eine tragfähige Lösung auszudenken. Aber wie immer sie auch aussehen mag, eine Voraussetzung muss gegeben sein:


Gegenüber dem Frieden haben immer alle beteiligte Parteien das Veto-Recht, d.h. nur eine Lösung, die von den Betroffenen akzeptiert wird/werden kann, führt zu einem längerfristigen Frieden...


Vor einigen Jahren habe ich einen mehrtägigen Workshop zwischen Schweizer und israelischen Juden auf der einen Seite und palästinensischen und Schweizer Palästinensern auf der anderen Seite moderieren dürfen. Seither weiß ich, dass auf beiden Seiten der Mauer und Grenzpfähle viele Menschen nach Wegen suchen, wie eine friedliche Zukunft organisiert werden kann. Die Hardliner auf beiden Seiten wollen das verhindern, da sie in dem epistemologischen Irrtum verhaftet sind, sie könnten durch die Anwendung von Gewalt einen Sieg erringen.


Ausführlicher zur Logik von Kriegen:


F:B. Simon: Tödliche Konflikte. Zur Selbstorganisation privater und öffentlicher Kriege. 3. Auf. 2022, Carl-Auer Verlag.


F.B. Simon: Einführung in die Systemtheorie des Konflikts. 5. Aufl. 2022, Carl-Auer Verlag.