Personenzentrierung und Situationszentrierung

Dieser Beitrag möchte sich einer methodisch-praxeologischen Frage nähern: dem Verhältnis von Personen- und Situationszentrierung. Dieses Verhältnis ist m. E. etwas Besondere in der Sozialen Arbeit und unterscheidet sie von andren Disziplinen wie z.B. dem Coaching, der Psychotherapie oder der psychosozialen Beratung (Counseling). Diese Unterscheidung ist zugleich auch der Beginn für eine disziplinübergreifende Verbindung.


Das Buch „Das Hypnosystemische Case Management in der Sozialen Arbeit“ (Kluschatzka-Valera 2023) führt den Begriff der UnterstützungsSITUATION ein. Fokussiert wird hierbei nicht nur auf eine Person als Individualität, sondern auf eine Person in einer Situation. Damit schließt das Buch an eine methodische Tradition der Sozialen Arbeit an (u. a. Karls u Wandrei 1992 / Pantucek-Eisenbacher 2019) und rekontextualisiert diese unter hypnosystemischen Prämissen.


Was charakterisiert diese Zugänge und wie bestimmt sich deren Verhältnis in der Sozialen Arbeit?


Die personenzentrierte Sichtweise nimmt die Individualität in Ihrer Ganzheit in den Fokus. Die Wortsilbe „hypno“ meint, dass die subjektive Perspektive – also das innere Erleben in Denken, Fühlen und Wollen – im Vordergrund steht. Begegnet wird dem Menschen und dessen Alltagssinn als subjektive Lebenswelt. Methodische Grundlinien stellen das Individualisieren, die Anteilnahme, Empathie, Würdigung und Wertschätzung sowie Kongruenz und Authentizität als auch der Forschungsgeist dar (Rogers 1983 / Schmidt 2023).
Hierbei wird zum einen phänomenologisch vorgegangen, abgeleitet von Husserls (2021) These „zurück zu den Sachen selbst“, hier verstanden als „zurück zu dem Menschen selbst“ in dessen innerer Erlebniswelt aus Geistigkeit, Seelenleben sowie Leiblichkeit. Zum andren ist der konstruktivistisch-neurobiologische Zugang interessant: Was ist die Wirklichkeit dieses Menschen – und wie produziert er diese (mit)? Für Resonanz- und Reflexionsprozesse eignet sich die bekannt gewordene Frage: „Wie wirklich ist diese Wirklichkeit?“ (Watzlawick 2021)?
Die lebensweltlich-narrativen und HYPNOsystemischen Zugänge bringen uns „zurück zu den Menschen selbst“. Die Phänomenologie hat hier einen (1) substanziellen und einen (2) funktionellen Nutzen.
(1) Wir schaffen eine verstehende-annähernde Beziehung zum Menschen und schaffen sohin eine Grundlage für echten Kontakt sowie situativ passende als auch nachhaltige Lösungen.
(2) Wir lernen die Erlebniswelt eines Menschen kennen in dessen Identität, Einstellung sowie Werthaltung, die wiederum sich im Verhalten äußert und mit der Mit- und Umwelt interdependiert. Dies ermöglicht uns gedanklich die Verbindung von der Personen- mit der Situationszentrierung.


Die situationszentrierte Perspektive fokussiert auf den Menschen in dessen Mit- und Umwelt. Zum einen kann sozialkonstruktivistisch (Berger u. Luckmann 2003) gearbeitet werden, um soziokulturelle Strukturen hinter dem Erleben zu entdecken: Woher gewinnt der Mensch seinen Sinn? Welche Kultur prägt ihn? Wie wirkt das Soziale auf das Individuelle? Welche Akteur:innen interagieren? Zum andren kann systemisch gefragt werden, in welche Funktionssysteme – z.B. wohlfahrtsstaatliche Leistungs- und Versicherungssysteme – der Mensch inkludiert ist? Und wo Soziale Arbeit bei Exklusion dem inkludierenden Auftrag nachkommen könnte.
Der Mensch ist der Situation wird nicht nur als Individuum wahrgenommen, sondern in dessen systemisch-holistischer – neudeutsch „ganzheitlicher“ – Eingebundenheit. Dies umfasst die soziomateriellen als auch soziokulturellen Verhältnisse: Soziale Strukturen und Felder werden nicht nur inkorporiert (Bourdieu 1987). Sie sind auch figurationssoziologisch im Denken und Handeln von Menschen akteurstheoretisch beschreibbar (Elias 2014). Subjektive Äußerungen von Menschen enthalten Soziales, so könnte diese Idee kurz zusammengefasst werden.
Aber nicht nur hinsichtlich des Verstehens und Deutens ist diese Perspektive wichtig. Letztendlich ist Soziale Arbeit eine Inklusions-Profession. Und die Inklusion erfolgt in soziale Systeme.


Wolf Rainer Wendt deutet an, dass diese Form der Beratung eine neue sei (2018). Fach- und Führungskräfte der Sozialen Arbeit nehmen eine andere Perspektive auf Menschen ein. Entsprechend beraten und begleiten sie anders. Es braucht Instrumente für die psychodynamische und die soziodynamische Ebene. „Hypno“ und „systemisch“ werden diese beiden miteinander verbunden.
Meine These ist, dass Soziale Arbeit beide Perspektiven einnimmt und auch braucht, um den originären Charakter der Disziplin gerecht zu werden. Und damit finde ich mich in guter Gesellschaft wieder, wie die Literatur zur Sozialen Arbeit zeigt: U. a. weist Peter Lüssi (2001) darauf hin, dass Soziale Arbeit die Personenzentrierung anfangs als einen therapeutischen Ansatz übernahm. Alsbald aber begann Sie eigenständige Wege zu gehen, um angemessene Methoden für die Aufgabe der sozialen Inklusion von Menschen zu entwickeln. Dies nennt Lüssi die Sozialberatung – im Unterschied zur z.B. Psychotherapie oder psychologischen Beratung.
Die Sozialberatung entwickelt den personenzentrierten Ansatz um den situationszentrierten weiter. Sie legt den Fokus nicht nur auf intrasubjektive Phänomene und Prozesse, sondern auch auf intersubjektive und soziale. Anstelle der psychischen Heilung durch z.B. die intrasubjektive Integration von Phänomenen und Prozessen wird nun die soziale „Genesung“ durch soziomaterielle Inklusion gesetzt. Soziale Arbeit emanzipiert sich damit zur Inklusions-Profession.


Kurzum: Die Situationszentrierung ist m. E. ein neuer Ansatz in der Beratungs-Landschaft bzw. der Beratungs-Methodik. Und ihr Vorteil – so meine Kernthese – ist, dass sie ein mehrperspektives Arbeiten nicht nur ermöglicht, sondern befeuert. Der situationszentrierte Zugang kann den personenzentrierten inkludieren. Damit wird eine methodische Grundlage für das multi- und transprofessionelle Zusammenarbeiten gelegt. Auch finden wir hier das Fundament, auf dem die Methode des Case Management aufbaut. In den kommenden Blogbeiträgen möchte ich sehr gerne all diese Aspekte vertiefen.


LITERATUR


Berger, Peter L. u. Luckmann, Thomas, (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main (Fischer).


Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 29. Auflage. Frankfurt am Main (Suhrkamp). 


Elias, Norbert (2014): Was ist Soziologie?: Grundfragen der Soziologie. 12. Auflage. München u. Wien (Juventa). 


Husserl, Edmund (2021): Phänomenologie der Lebenswelt: Ausgewählte Texte II. Ditzingen (Reclam). 


Karls, J.M. / Wandrei, K.E. (1992): PIE – A New Language for Social Work. In: Social Work Nr. 37. Washington DC. S. 80-86.


Kluschatzka-Valera, Ralf (2023): Das hypnosystemische Case Management in der Sozialen Arbeit. Unterstützungssituationen gestalten. Heidelberg (Carl-Auer). 


Lüssi, Peter (2001): Systemische Sozialarbeit: Praktisches Lehrbuch der Sozialberatung. 5. Auflage. Bern (Haupt).


Pantucek-Eisenbacher, Peter (2019):Soziale Diagnostik: Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. 4. Auflage. Göttingen, Wien u. Köln (Vandenhoeck u Ruprecht). 


Rogers, Carl (1983) Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Client-Centered Therapy. 22. Auflage. Frankfurt am Main (Fischer).


Schmidt Gunther (2023): Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. 10. Auflage. Heidelberg (Carl-Auer). 


Watzlawick, Paul (2021): Wie wirklich ist die Wirklichkeit?: Wahn, Täuschung, Verstehen. 2. Auflage. Piper (München). 


Wendt, Wolf Rainer (2018): Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen: Eine Einführung. 7. Auflage. Freiburg im Breisgau (Lambertus).