Warburgs Ellipse

„Wir haben ja schon viel miteinander geklärt“, sage ich meinem Wein. „Wir haben darüber gesprochen, was du bist, wer du bist und anfänglich auch darüber woher du kommst.“


„Also fast alle großen Fragen der Menschheit“, antwortet mein Wein. „Aber hattest du der Weinkommission nicht zugesagt, bei mir auf alle Klärungsprozesse zu verzichten?“


„Bitte nicht schon wieder kalauern!“, sage ich. „Im Übrigen habe ich nur gesagt, ich wolle auf die nicht natürlichen Klärungsprozesse verzichten.“


„Natürlich“, sagt mein Wein.


„Also alles klar?“, frage ich.


Natürlich nicht!“, antwortet er. „Die letzte große Menschheitsfrage steht noch aus: Wohin gehen wir?


Woher ich komme, weiß ich. Auch ist mir in Erinnerung, dass ihr bei meiner Ernte die Schlange in einem Weinstock entdecktet.“


„Am Anfang war die Schlange … Habe ich dir übrigens schon erzählt, dass in meinem Buch ‚A votre santé‘ auch die Schlange von Beginn an …“


„Jaha, mehrfach“, unterbricht mich mein Wein.


„Also gut, woher du kommst, weißt du, aber nun die letzte große Frage der Menschheit: Wohin gehen wir?“


„Du hast mir einige Ängste genommen, als mir in den vergangenen Gesprächen deutlich wurde, dass ich derselbe bleibe, auch wenn ich nur in der einzigen Flasche bleibe, die du von mir behältst. Du behältst mich doch?“


„Versprochen ist versprochen“, sage ich. „Du bekommst ein Etikett, das deine Einzigartigkeit und deine Zugehörigkeit bezeugt. Und für mich bist du nicht nur der 22er Collioure, sondern auch der Schlangenwein.


Und bei jeder Weinprobe mit dir, bei der ja erzählend deine Identität bestätigt wird, werde ich auch von der Schlange berichten.“


Hat dir bei deinen Geschichten eigentlich schon mal jemand gesagt, dass auch beim Erzählen manchmal weniger mehr ist? Vor allem bei einer Weinprobe?“


„Du wolltest doch wissen, wohin wir gehen“, versuche ich abzulenken.


„Gut, wohin gehen wir?“


„Ein Teil von dir bleibt hier, und ein anderer Teil wird mit mir nach Heidelberg kommen. Der Keller dort bietet bessere Reifungsbedingungen. Und wenn wir Glück haben, wirst du bei vielen Weinproben und bei vielen kulinarischen Anlässen besprochen und bestimmungsgemäß einverleibt. Und ein zentraler Gesprächsgegenstand wird deine Identitätsentwicklung sein.“


„Du weißt, wie ich das Teile-Konzept hasse. Ich komme nur unter einer Voraussetzung mit“, sagt mein Wein.


„Und die wäre?“


„Ich brauche den Rahmen für meine Identitätsentwicklung. Wenn du schon gerne so viel erzählst, dann bitte jetzt eine Geschichte, zu der ich die Vorgaben mache. Ich möchte gerne zuvor gehört werden. Und ich kann mich nur dann zufriedenstellend weiterentwickeln, wenn ich mich im Heidelberger Cave wohlfühle.“


„An welche Vorgaben denkst du?“


Also zunächst natürlich der Bezug zu Coaching und Weinberg. Und wenn ich schon der Schlangenwein bin, dann bitte die Schlange – im Eingangskapitel deines Buches hast du sie ja schon mit dem Coach gleichgesetzt. Und wenn ich schon in der Flasche bin, dann bitte noch etwas zum Etikett und den Problemen des Etikettierens. Und als besondere Herausforderung diesmal auch etwas zur Ellipse.“


„Warum denn Ellipse?“


„Du erinnerst dich, dass neulich dein Lieblingslektor in Bezug auf deine Blogbeiträge deine elliptischen Erzählstrukturen erwähnte.


Ach ja, und jetzt fällt mir noch etwas ein: Die Ereignisse der Geschichte sollten unabhängig verifizierbar sein; eine deiner Töchter berichtete mir neulich, dass man bei dir nie wisse, was Dichtung und was Wahrheit ist.


Und wenn wir schon bei Dichtung und Wahrheit sind: Goethe sollte diesmal nicht erwähnt werden. An den einen oder anderen Philosophen im Text muss ich dich ja nicht erinnern. Und wenn wir schon nach Heidelberg sollen, dann Philosophen, die zumindest den dortigen Philosophenweg kennen.“


„Also los! Ich mag komplexe, anspruchsvolle Weine, und was Dichtung und Wahrheit betrifft: Ich werde die Geschichte so wahrhaftig konstruieren, wie man komplexe Geschichten nur ‚unabhängig verifizieren‘ kann.


Unsere Geschichte beginnt vor ziemlich genau 100 Jahren. Ein Jurist, seines Zeichens Landeskommissär – wie schon sein Vater – und Disziplinarbeamter der Universität Heidelberg, sowie seine Ehefrau, beschließen, auf der anderen Seite vom Neckar in Handschuhsheim ein Haus zu bauen. Und da der Architekt zur damaligen Zeit – wie mir des Kommissärs Tochter erzählte – nach Kubikmetern bezahlt wurde, ergab es sich auf wunderbare Weise, dass auch ein recht tiefer Keller geplant wurde. Dies war dem Bauherrn Recht, denn sein Großvater war, wie sein Onkel, Weingutsbesitzer im Südbadischen, und die familiären Kontakte waren wohl intensiv. Für unsere Geschichte ist nun ebenfalls bedeutsam, dass seine Gattin eine geborene Binswanger war, die Schwester des Psychiaters Ludwig Binswanger (dem Jüngeren).


Du siehst“, sage ich meinem Wein, „wie ich versuche, die Kurve zu kriegen: Er Spross einer traditionsverhafteten Winzerfamilie, sie aus einer ebenso traditionsreichen Psychiaterfamilie.“


„Wenn schon Kurve“, sagt mein Wein, „dann darf ich dich bitte an die Ellipse erinnern.“


„Die kommt schon noch“, entgegne ich, „nur Geduld! Während das Haus nun seiner Vollendung zustrebt, tut sich auch etwas bei Bruder Binswanger in Kreuzlingen. Der hatte, nach seiner Ausbildung u. a. im Burghölzli bei Eugen Bleuler und dessen Oberarzt Carl Gustav Jung – bei dem er auch promovierte – nach dem Tode seines Vaters Robert Binswanger die private Heilanstalt Bellevue übernommen. Sein Onkel Otto und sein Vetter Kurt Binswanger unterstützten ihn dabei. Durch die Vermittlung C. G. Jungs hatte Ludwig schon ein paar Jahre vorher einen engen Kontakt zu Sigmund Freud, der dann auch einige seiner Patienten ins Bellevue überwies. Auch dies hatte schon eine gewisse Tradition, da bereits sein Vater Robert eine gewisse Berta Pappenheim, besser bekannt als Anna O. in Freuds Schriften, behandelte. Allerdings wohl ebenso erfolglos wie schon zuvor bei der Behandlung durch Breuer.“


Trotz aller Erzählfreude spüre ich, wie mein Wein unruhig wird: „Denk dran, dass du noch Schlange, Ellipse, Weinberg und Coaching einbauen musst; die Philosophen will ich schon gar nicht mehr erwähnen.“


„Lass mich nur kurz erläutern, warum das Bellevue für viele Patienten und auch fortschrittliche Psychiater so interessant war. Bereits der Großvater, Ludwig Binswanger (d. Ä.) stand den damals gängigen Therapiemethoden wie Lobotomie, Elektrokrampfbehandlung, aber auch Hypnose, sehr distanziert gegenüber; andere Konzepte der Zeit, wie balneo-, milieu- und familienorientierte Verfahren versuchte er hingegen zu integrieren. Sein Enkel Ludwig (d. J.) entwickelte die Psychoanalyse zur Daseinsanalyse weiter, indem er sich mit den phänomenologisch-ontologischen Strömungen der Zeit, etwa Husserl und vor allem Heidegger auseinandersetzte, dessen Begriff des „In-der-Welt-Sein“ ihn dazu veranlasste, den „Weltentwurf“ der Patienten in sein therapeutisches Konzept zu integrieren.“


Aha“, sagt mein Wein, „da sind ja schon mal zwei Philosophen.“


„Ja, vor allem war dadurch die Klinik nicht nur eine reformpsychiatrische Einrichtung für gehobene Stände. Auch die Sinngebungen durch handelndes In-der-Welt-Sein machten den Ansatz für viele attraktiv. Und so verwundert es auch nicht, dass in der Folgezeit zahlreiche Prominente, die möglicherweise an ihrer Sinnsuche zu zerbrechen drohten, im Bellevue Aufnahme fanden. So etwa der Tänzer Vaslav Nijinski, der Schauspieler Gustaf Gründgens oder der Maler Ernst Ludwig Kirchner. Der letztgenannte, kriegstraumatisiert, drogenabhängig und mit Lähmungserscheinungen an den Händen, erhielt 1917/18 in der Klinik Unterstützung in seiner künstlerischen Arbeit. Er schuf Holzschnitte u. a. der Ärzte, Pfleger und Mitpatienten und stabilisierte sich mit therapeutischer Begleitung. Die sinnsuchende Aktivität schien – zusammen mit den nahezu familiären Kontakten, denn auch Binswangers Schwiegermutter beteiligte sich und wurde von Kirchner portraitiert – diesen Stabilisierungsprozess zu begünstigen.“


„Du schweifst ab“, unterbricht mich mein Wein. „Denk an die Vorgaben!“


„Nun, der familiäre Umgang mit den Patienten – der war schon seit Längerem ein Merkmal therapeutischen Handelns in der Familie Binswanger  – wurde um die Anregungen zu sinnstiftenden Aktivitäten, zu einem anderen ‚In-der-Welt-Sein‘,  Diese Erkenntnis verfestigte sich zunehmend in den Jahren, in denen seine Schwester in Heidelberg das Fundament für den (Wein-)Keller und das Haus legte. Gleichzeitig kamen Zweifel an der Wirksamkeit psychoanalytischer Strategien auf. Es ist nicht bekannt, ob diese Behandlungsform zu diesem Zeitpunkt noch vornehmlich praktiziert wurde. Ein Brief an Manfred Bleuler aus dem Jahre 1954 lässt dies jedoch vermuten: ‚(...) ich glaubte, man könne jeden Fall mit Psychoanalyse heilen, vorausgesetzt, dass man genügend Zeit für die Behandlung hätte. Ich brauchte fast zehn Jahre, um mich von diesem Irrtum zu befreien‘ (zitiert nach Theiss-Abendroth https://doi.org/10.4414/sanp.2018.00536).


Und diese zehn Jahre sind erreicht, als ein neuer Patient ins Bellevue überwiesen wird: Aby Warburg (1866–1929).


Abraham Moritz Warburg entstammte der Banker-Familie der Warburg Bank in Hamburg – ich erspare uns jetzt den Schwenk zum Cum-Ex-Skandal. Er sollte als Erstgeborener in die Fußstapfen seines Vaters treten, verzichtete aber zugunsten seiner jüngeren Brüder darauf, wenn diese ihm zusicherten, stets für die Beschaffung und Unterbringung seiner Bücher zu sorgen, die seinem wissenschaftlichen Interesse entsprächen. Heute würde man sagen, diese Interessen bezogen sich auf die Kulturwissenschaften im weitesten Sinne, und in der Tat ist Aby Warburg einer der prominentesten und innovativsten Vertreter dieser Fachrichtung geworden. Und er war sicher einer der unkonventionellsten. Seine Abmachung mit den Brüdern – das bibliophile Linsengericht – erlaubte es ihm, eine umfangreiche Bibliothek aufzubauen. Zunächst beschäftigte er sich mit kunstgeschichtlichen Studien, bald jedoch interessierte er sich für symbolische und ikonografische Elemente in den Weltentwürfen der Künstler über die Antike, die Renaissance bis hin zu den rituellen Praktiken der sogenannten Naturvölker. Ähnlich wie Kirchner litt Warburg unter den Erfahrungen des ersten Weltkriegs. Schon als Kind war er labil und aufbrausend, eine Typhuserkrankung hatte ihn körperlich geschwächt, und wie viele Kinder dieser Altersstufe litt er unter starken Alpträumen und wiederkehrenden Fieberphantasien. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen, vielleicht von Binswanger angeregt, schreibt er:


‚Von dieser Zeit her habe ich die Bilder der Fieberphantasie mit einer Deutlichkeit behalten, die mir sie wie gestern eingeprägt vorkommen lassen (…).Aus dieser Zeit stammt die Furcht, die durch unproportioniert zusammenhangslose Bilderinnerungen oder Sinnesreize der Geruchs- und Gehörorgane hervorgerufen wurden, die Angst, die das Chaos hervorruft, der Versuch, intellektuell Ordnung in dieses Chaos zu bringen – ein Versuch, der ja als der tragische Kindheitsversuch des denkenden Menschen überhaupt bezeichnet werden kann – begangen also sehr früh und viel zu früh für meine nervöse Konstitution.‘


Mit Einsetzen der Pubertät wurde Warburg depressiv, er hatte ständige Befürchtungen, an Krankheiten, vor allem an Tollwut sterben zu müssen. Einer seiner Klassenkameraden starb an einer ähnlichen Infektion.


Gleichzeitig bedrängten ihn die religiösen Rituale des Elternhauses, er weigerte sich, daran teilzunehmen, und in diese Zeit – Aby war 13 Jahre alt – fällt auch der ‚Verkauf‘ seines Erstgeburtsrechts für eine fortlaufende Bücherspende an seinen jüngeren Bruder Max.


Der Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 beunruhigte ihn, er fühlte sich und seine Familie zunehmend von Antisemiten und Bolschewiken bedroht. Eines Tages ergriff er eine Pistole, um mit einem gemeinsamen Suizid den akuten Bedrohungen zuvorzukommen. Diese Aktion führte zu einer Einweisung in eine Hamburger Privatklinik, die ihn aber nach einem halben Jahr wieder entließ. Da sein Zustand zu Hause untragbar erschien, brachte ihn die Familie in die Psychiatrie nach Jena, deren Ordinarius ursprünglich Otto Binswanger war. Dessen Nachfolger, Hans Berger, der Erfinder des EEG, erstellte die Diagnose einer Dementia praecox bzw. schizophrenen Psychose. Nach einem halben Jahr bat Berger um Übernahme des Patienten ins Bellevue nach Kreuzlingen, da Warburgs ständiges Schreien nicht zu ertragen sei.


Auch im Bellevue zeigt sich Warburg wenig kooperativ, hochgradig agitiert und gewaltbereit. Binswanger versucht ihn auf sein Arbeitsfeld anzusprechen und ihn zu einer konkreten Beschäftigung mit seinen Interessen zu ermutigen. Warburg verbittet sich diese ganze ‚Binswangerei‘. In seinen ruhigeren Phasen nimmt er allerdings – das war ja Teil des Behandlungskonzepts – am Familienleben teil. Insgesamt zeigt sich Binswanger nicht sehr optimistisch im Hinblick auf die Heilungschancen, wie einem Briefwechsel mit Freud und auch der Familie Warburg zu entnehmen ist. Die Warburgs möchten daraufhin eine Zweitmeinung über Abys Zustand einholen und beauftragen Emil Kraepelin mit einer weiteren Diagnose. Im Gegensatz zu Berger wird nun eine bipolare affektive Störung – schließlich hat Kraepelin das erfunden –, das manisch-depressive Irresein, konstatiert. Ein anderes Etikett also …“


„Endlich das nächste Stichwort!“, unterbricht mein Wein. „Jetzt willst du mir sicher deutlich machen, wie ein Stück Papier unser Selbstverständnis und die Anerkennung durch andere beeinflusst.“


„Ein anderes Etikett,“ fahre ich fort, „das zudem von Kraepelin mit Hinweis auf eine Veränderung der Symptome, also bessere Heilungschancen, verbunden wird. Mit dieser neuen Zuschreibung fasst Warburg neuen Mut.


Seine kunstgeschichtlichen Studien hatten sich mit Symbolen und affektregulierenden Gesten in den Darstellungen von der Antike bis zur Renaissance beschäftigt. Auf einer Reise in die USA hatte er die rituellen Tänze indigener Bevölkerungsgruppen (z. B. der Hopi) als symbolische Handlungen zur Bewältigung von Urängsten und Bedrohungen wahrgenommen. Warburg sieht sich bestärkt, dass seine chaotischen Bilder im Kopf und seine Zwangsrituale nicht irgendwelchen Wahnideen entstammen, sondern auch als Versuche gelten könnten, mit den bisherigen Traumatisierungen und existenziellen Ängsten umzugehen. Und dass solche Ordnungsversuche durch Symbolbildung durchaus als entwicklungsspezifische Affektregulierungen – wie in der frühen Kindheit – angesehen werden können.


Im Austausch mit dem Verwalter seiner Hamburger Bibliothek, Fritz Saxl, und im Gespräch mit Binswanger, der ja – nicht erst seit Kirchners therapeutischen Fortschritten – in „sinnsuchenden Aktivitäten“ eine wirksame Methode daseinsanalytischer Maßnahmen sieht, entsteht nun die Idee, in der Kreuzlinger Heilanstalt vor geladenen Gästen einen Bilder-Vortrag über seine Reise zu den Hopi anzubieten. Warburg hat eine sinnstiftende Aufgabe, der er sich nun stellen muss.


Seine Reflektionen über die Rituale der Ureinwohner Amerikas, vor allem das Schlangenritual, geben ihm Anlass, Symbolbildungen und Rituale als bedeutsame Hilfen für die individuelle wie stammesbezogene Überwindung von Aberglauben, Urängsten und damit verbundenem Chaos zu sehen.


Die unerwartet positive Resonanz dieses Vortrags bestärkt Warburg darin, seine kulturwissenschaftlichen Forschungen wieder aufzunehmen. Unterstützt in seinen Untersuchungen zu Ritualen und Symbolen wird er zudem vom Hamburger Philosophen Ernst Cassirer, der auf Warburgs Bibliothek und deren Systematisierungen aufmerksam gemacht worden war, sie häufig frequentierte und Kontakt mit dem Begründer aufnehmen wollte. Cassirer hatte das symbolische Denken ins Zentrum seiner philosophischen Überlegungen gestellt. Er sah darin das ‚Denken, das die natürliche Trägheit des Menschen überwindet und ihn mit einer neuen Fähigkeit ausstattet, der Fähigkeit, sein Universum immerfort umzugestalten‘ (Cassirer 1990, S. 100). Symbolisierungen also auch hier als Versuche, sich aus der Unmündigkeit vielfältiger Urängste und dem Chaos frühkindlicher Erfahrungen zu befreien. Die Symbolisierung der Schlange und das bei den Hopi erlebte Bewältigungsritual sind ein Beispiel für die Externalisierungsmöglichkeiten und damit das Begreifen magischer und affektiver Inhalte.


Und sie zeigen in historischer Betrachtung auch das Bipolare solcher Symbole, bei der Schlange etwa das Vernichtende (Laokoon) wie das Heilende (Asklepios), im symbolischen Denken die Gleichzeitigkeit von magischen und rationalen Prozessen. Enthielt dann nicht auch Warburgs neue Diagnose der bipolaren Störung einen Hinweis auf die Möglichkeit eigenständiger Bewältigungsprozesse? Ein Symbol für das Bipolare ist die Abkehr von konzentrischen Weltbildern hin zur Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten. Warburg hatte sich zuvor für die kulturellen Besonderheiten der Renaissance interessiert. Und hier hatte man ja mit den Entdeckungen der elliptischen Form von Planetenumlaufbahnen durch Johannes Kepler die Idee weiterverfolgt, dass es Freiheit im Kosmos gebe. Die Ellipse, so stellt Warburg fest – und er wird hierin durch Cassirer bestätigt –, war seit der Renaissance ein visuelles Symbol für die Freiheit des Willens, für die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft, aber auch für die politische und bürgerliche Freiheit.


Und nicht zuletzt ist die Grundidee bipolarer Bezogenheit von magischem und analytischem Denken, von Glaube und Vernunft, ein zutiefst individuelles Konstrukt, das das Chaos im Kopf in kontrollierbare und begreifbare Bahnen lenken kann.“


„Du meinst also“, fragt mein Wein, „dass dies dein Lieblingslektor andeuten will, wenn er deine chaotischen Schreibversuche als elliptisch bezeichnet?“


„Wie auch immer. Die ‚Externalisierung‘ ambivalenter Affekte und Gedanken durch das Symbol der Ellipse bestärkt Warburg in dem Wunsch und in der Hoffnung, seine Studien wieder aufzunehmen und die Hamburger Bibliothek weiterzuentwickeln. 1924 wird er aus Kreuzlingen entlassen, in den Folgejahren vertieft er nicht nur die freundschaftlichen Gespräche mit Cassirer, sondern gibt seiner Bibliothek mit einem Nachbargebäude ein neues Zuhause. Der neue Hörsaal wird, nicht nur aus akustischen Gründen – wie wir uns denken können – in Form einer Ellipse gestaltet, die Lichtfenster in der Decke folgen ebenfalls dieser Form. Die Bibliothek wird zu einem Begegnungsort unterschiedlich kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Hier setzt Warburg seine Arbeit an der Entwicklung moderner Kulturwissenschaften fort. Sein symbolischer Leitstern der Ellipse beschäftigt ihn auch weiterhin. Er korrespondiert diesbezüglich mit Thomas Mann, und im Jahre 1928 besucht er Albert Einstein in dessen Ferienort in Scharbeutz, um mit ihm über Kepler und die Bedeutung der Ellipse in den Naturwissenschaften zu diskutieren. Man kann nicht sicher sein, ob beide Warburgs eigentliches Anliegen nachvollziehen können, aber sie hören zu.“


Die Schlange, die Ellipse, der eine oder andere Philosoph“, sagt mein Wein. „Die Anforderungen, die ich an deine Geschichte gestellt habe, sind wohl erfüllt. Aber welchen Bezug stellst du zum Coaching her“?


„Nun, zum einen wird an der Geschichte deutlich, wie Etikettierungen die Entwicklungsmöglichkeiten der Bezeichneten beeinflussen können und dass Etiketten und Diagnosen dann hilfreich sein können, wenn sie Hinweise auf künftige Entwicklungsmöglichkeiten enthalten. Auch dein Etikett“, sage ich meinem Wein, „wird die Beurteilung deiner Persönlichkeitsentwicklung und das, was von dir wahrgenommen wird, – auch im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung – beeinflussen.


Zum anderen ist an dem Kreuzlinger Vortrag deutlich geworden, dass ‚Externalisierungen‘ eine nachhaltige Strategie der Verhaltensänderungen sein können, vor allem wenn damit das innere Chaos bezeichnet und Ängste symbolisiert werden. Verstärkt wird es noch dadurch, dass der metaphorische Gehalt solch symbolischer Handlungen genutzt wird. In den Aufzeichnungen zu seinem Vortrag bietet Warburg das Bild des Seismografen an. Er ist ein Gerät, das selbst kleinste Erschütterungen durch Schreiben (!) sichtbar macht, d. h. externalisiert, und das ja auch dazu konstruiert wurde, ein Aufschaukeln chaotischer Zustände rechtzeitig eindämmen zu helfen. Die Angstforschung zeigt, dass wir dann mit beängstigenden Situationen besser umgehen lernen, wenn wir uns sensibilisieren, bereits erste Anzeichen wahrzunehmen und uns, bevor wir vollends überwältigt werden, auf unsere Ressourcen besinnen.“


Das Bild des Seismografen gefällt mir“, sagt mein Wein, „das Gerät, das bereits erste Warnsignale in ‚Zeitenwenden‘ registriert. Und die beiden Pole der Erschütterung und des Schreibens in einen elliptischen Zusammenhang bringt.


Und es verweist auf einen zugrundeliegenden Kontext. Im Falle Warburgs habe ich das Gefühl, dass etwas mehr Kontextsensibilität den diagnostischen und therapeutischen Prozess begünstigt hätte. Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde Warburg u. a. dadurch auffällig, dass er sich eine Pistole besorgte, um sich und seine Familie gegen ‚bolschewistische und antisemitische‘ Übergriffe zu schützen. Diese Befürchtungen waren am Ende des ersten Weltkrieges für einen Hamburger Bankierssohn nicht ganz unbegründet. Solche seismographischen Hinweise hätte man in der Beurteilung der – vielleicht übertriebenen – Reaktionen durchaus zur Kenntnis nehmen können.


Hier in Frankreich und bestimmt auch in Deutschland wird doch seit einiger Zeit diskutiert, ob man das Verhalten von überbesorgten Bürgern vielleicht als seismografische Ausschläge nachvollziehbarer Ängste und Verunsicherungen verstehen sollte. Uns kommt das als verschwurbelte Theorien und als irrationale und wahnhafte -ismen welcher Ausprägung und Zielrichtung auch immer vor, und wir sperren es deshalb mit dem ersten Kontakt aus unseren Diskursen weg. Aber viele sehen sich weniger als Schwurbler und Verschwörungstheoretiker sondern als Seismografen in einer ‚Epoche eines chaotischen Untergangs‘, und wir vertiefen die Kluft innerhalb der Gesellschaft nur noch mehr, wenn wir nicht ernsthaft über die zugrundeliegenden Bedingungen und die Veränderungsmöglichkeiten ins Gespräch kommen. Es fehlt uns der elliptische, bipolare Diskurs!“


„In vino veritas“, versuche ich den Redeschwall meines Weines zu stoppen, wohl wissend, dass ausführliche Erläuterungen anderer mich meistens dazu bringen, noch ausführlicher nachzulegen. „Du wirst deine Herkunft als diskursfreudiger Franzose wohl auch in deutschen Weinkellern nicht ablegen wollen.“


Ich versuche mir gerade zu überlegen, was wohl passiert, wenn ich in einem Coachinggespräch die seismografischen Angebote meiner Coachees in die Schubladen pathologischer Denkstrukturen stecke. Mir fällt das Buch Hoffnung und Resilienz von Short und Weinspach über die grundlegenden Therapiestrategien Milton H. Ericksons ein. Vielleicht sind es auch diese Kategorien, die Aby Warburg auf den Weg gebracht haben, ein befreites, wissenschaftlich kreatives Leben weiterzuführen.


„Sind wir jetzt beide ins Grübeln gekommen?“, fragt mich mein Wein. „Ich brauche noch einen Abschluss, wenn ich mir wünschen darf, eine elliptische Geschichte mit noch drei Philosophen und noch einem Argument, warum es für mich gut wäre, in den Heidelberger Weinkeller zu gehen. Und ‚in vino veritas‘: Sie sollte wahr sein.“


„Also gut“, sage ich. „Zunächst einmal sind in diesem noch jungen Jahrhundert zwei bedeutende Philosophen in Heidelberg gestorben, die das Haus – und vielleicht auch den Weinkeller – kannten. Einer von ihnen, Hans Albert, starb vor einem Jahr. Der andere, Hans Georg Gadamer, vor 22 Jahren. Und beide wurden 102 Jahre alt, es ist also eine Gegend, in der man würdevoll und voller Weisheit reifen kann.


Und der dritte Philosoph gibt mir die Gelegenheit, mit dem elliptischen Geschichtenkarussell abzuschließen:


Ernst Cassirer, der Gesprächspartner Aby Warburgs vor genau 100 Jahren, hatte einen Assistenten, Joachim Ritter, der später im berühmten Davoser Streitgespräch 1929 zwischen Cassirer und Heidegger Protokoll führte. Er habilitierte sich 1932 – trotz der Widerstände der Fakultät wegen seiner kommunistischen Vergangenheit – über ‚Neuplatonische Ontologie bei Augustinus‘. In dem Jahr der Emigration Cassirers unterzeichnete er das ‚Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler‘, war lange Jahre als Offizier an der Ostfront und bekam in dieser Zeit  eine Professur für Philosophie an der Universität Kiel.


Als ich 1962 mein Psychologiestudium in Münster bei Wolfgang Metzger begann, hörte ich meine erste eindrucksvolle Philosophie-Vorlesung über Ontologie bei ihm, dem Begründer der ‚Ritter-Schule‘. Und als er 1968 starb, wurde er auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf beigesetzt, nicht weit von der Ruhestätte Aby Warburgs. Und als Ritters Frau vor nicht langer Zeit starb, wurden beide auf einem anderen Friedhof bestattet. Es ist der Friedhof, auf dem bereits drei Bewohner unseres Hauses liegen, die den Weinkeller gut kannten. Die Ruhestätten sind auch nur ca. 250m Luftlinie von unserem Haus entfernt“.


„Na dann“, sagt mein Wein, „planen wir unseren dritten Lebensabschnitt. Aber ich möchte noch nicht würdevoll reifen, ich möchte mich gehaltvoll entwickeln. Ich möchte, wie auch du, die beiden Brennpunkte meiner elliptischen Lebensgestaltung beibehalten: die Weinberge um Collioure und Heidelberg, an beiden Orten werde ich mich aufhalten und – wie du mit Weinberg und Coaching – hier und dort präsent sein.


Ich verstehe Aby Warburgs Schlussfolgerungen auch so, dass das Symbol der Ellipse in seiner Bipolarität nicht nur ein Spiegel der Welt ist, sondern mit den Polen von Magie und rationaler Bewältigung die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen zu mehr Freiheit widerspiegelt. Um es profan auszudrücken: Meine Identitätsentwicklung – und damit das, womit wir in Zukunft unsere Genusspartner überraschen –, geschieht im Wechselspiel zwischen südfranzösischer Sonne und den feucht-kühlen Bedingungen eines tiefen Heidelberger Kellers. Es ist ein ständiges Kreisen um diese beiden Brennpunkte, das mich unvorhersagbar und damit frei und zukunftsfähig macht. Vielleicht ist es ja auch für dich und deine Coachingpartner hilfreich, wenn du in die narrativen Elemente deiner Gespräche häufiger bipolare Sichtweisen und elliptische Strukturen integrierst. Vielleicht ist das ja eine Voraussetzung dafür, dass dynamische und hilfreiche Metaphern generiert werden können.


Und solltet ihr dann erfahren, wie spielerisch und überraschend in solchen Gesprächen neue Handlungsmöglichkeiten generiert werden: Vergiss nicht, dich bei deinem Lieblingslektor zu bedanken.“



Literatur:


Short, Dan und Claudia Weinsbach (2017): Hoffnung und Resilienz. Heidelberg (Carl-Auer).


Warburg, Aby (1988): Schlangenritual. Ein Reisebericht. Hg. von Ulrich Raulff. Berlin  (Wagenbach).


Warburg, Aby (2010): Werke. Hrsg. und kommentiert von Martin Treml, Siegrid Weigel u.  Perdita Ladwig. Berlin (Suhrkamp).