Die Verantwortung der Systemtheorie

Die Verantwortung der Systemtheorie


von Heiko Kleve


 


Allein der von mir gewählte Titel dieses letzten Intros vor der Sommerpause unseres Blogs „Das Anhalten der Welt“ wird vermutlich sowohl Fritz Simon als auch Steffen Roth nicht gefallen. Denn, so höre ich sie schon schimpfen: Eine Theorie kann kein Träger von Verantwortung sein! Außerdem könnten sie einwenden, dass wir mit Theorie das machen, was wir eben machen: differenzierte Beschreibungen und Erklärungen anfertigen, die bestenfalls etwas in den Fokus bringen, was wir sonst nicht beobachten könnten.


Aber welche Verantwortung sollte denn damit einhergehen? Vielleicht jene Verantwortung, anhaltend darauf hinzuweisen, dass die Welt komplexer ist als sie gerade in Krisenzeiten medial präsentiert wird und dass wir diese Unsicherheit aushalten sollten, weil es keine absolute, etwa politische oder wissenschaftliche Kontrolle komplexer Dynamiken geben kann – so lautet zumindest mein Sommerpausenpostulat.


„Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.“ Dieser Satz, der nach Paul Watzlawick (Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Wahn, Täuschung, Verstehen. München 1976, S. 57) auf Albert Einstein zurückgeht, verdeutlicht, dass unsere Wirklichkeit ein durch unsere kognitiven Beobachtungsinstrumente mitgeprägtes Phänomen ist. Die Wirklichkeit „an sich“ ist für uns nicht erkennbar, was wir bereits bei Immanuel Kant lesen können. Wir erkennen das, was wir durch die Art und Weise unserer Beobachtungen als Erkenntnis „einladen“. Daher erscheint es wichtig, dass wir den Modellcharakter unserer (auch wissenschaftlichen) Wahrnehmungsergebnisse akzeptieren und uns Rechenschaft darüber ablegen, dass wir bestenfalls die Speisekarte, aber nicht die Speise selbst in unseren Sinneskanälen haben – um nochmals Paul Watzlawick zu bemühen, der diese Speise(karten)-Metapher verwendet, um den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus zu veranschaulichen.


Was hat dies nun aber alles mit Verantwortung zu tun, zumal mit jener der Systemtheorie? Wäre es angesichts der komplexitätsreduzierten Weltbeobachtungen, die wir bezüglich der Pandemie in den letzten Monaten in den Medien, in der Politik, aber zum Teil auch in der Wissenschaft beobachten konnten, nicht angemessen gewesen, dass sich die Systemtheorie zu Wort meldet, dass entsprechende Protagonisten zur Vorsicht rufen, wenn modellhafte Simulationen (etwa des Imperial College London) ein Corona-Massensterben prognostizieren? Ist nicht hier genau das sichtbar geworden, was Watzlawick als Verwechselung von Speisekarte und Speise veranschaulicht? Wäre es nicht sinnvoll gewesen, Kritik zu üben in einer Zeit, in der wir Niklas Luhmanns „Realität der Massenmedien“ (Opladen 1996) so deutlich und extrem beobachten konnten wie kaum zuvor?


„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen“ (ebd., S. 9 f.). Wer jedoch weiß, dass jede Welt- und Gesellschaftsbeobachtung aus Komplexitätsselektionen hervorgeht, so dass das massemediale Erscheinen der Welt auf den Bildschirmen der Geräte die Kontingenz nur ausblendet, aber nicht vernichtet, der pflegt den skeptischen Blick und fragt, welche blinden Flecken die präsentierten Unterscheidungen erzeugen und wie genau diese eingeblendet werden könnten, um zu sehen, was bisher nicht oder zu wenig gesehen wurde. So ist freilich auch der politische Umgang mit der Pandemie und die öffentliche, d.h. politische, mediale und wissenschaftliche Inszenierung dieses Versuchs, eine komplexe Dynamik, in der sich biologische und gesellschaftliche Phänomene untrennbar miteinander verstrickt haben. Wer, wenn nicht Komplexitätsforscher*innen, sollte in der Lage dazu zu sein, diese Verstrickungen zu differenzieren, das Knäuel der verhedderten Maschen und Bänder zu sortieren?


Wenn beispielsweise der Virologe Hendrick Streeck ( https://www.stern.de/gesundheit/...) fordert, dass es an der Zeit ist, die Rolle der Virologen zu begrenzen, dass endlich auch Soziologen oder Psychologen gehört werden sollten, dann zeigt das doch, dass diese sich bisher zu wenig eingemischt haben oder nicht laut genug waren. Neben ihrem Blick auf die nicht intendierten Effekte der Pandemiebekämpfung könnte die Soziologie gar die frühen Kritiker*innen des politischen Umgangs mit der Corona-Pandemie verteidigen. Denn einige von diesen haben z.B. auf den sozialen Konstruktionscharakter der gesellschaftlichen Bilder der aus China kommenden Pandemie hingewiesen und ausgeführt, was passiert, wenn die geballte gemeinsame Aufmerksamkeit der Medien, der Politik, des Gesundheitssystems und der Wissenschaft sich auf dieses Virus zentriert. Die Fokussierung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bestimmt den Fluss der sozialen „Energien“. Diese Konzentration sozialer Wahrnehmungsprozesse hat eine problematische Pfadabhängigkeit erzeugt, die jeden Versuch, alternative Pfade zu betreten, mit moralischen Abwertungen bestraft. Dies war bereits Thema in diesem Blog.


Wer weiß, dass uns Komplexität mindestens in zweifacher Weise überfordert, dass sie erstens keine sicheren Beobachtungen und Prognosen zulässt und dass sie zweitens nicht einmal erlaubt, statistische Korrelationen zu konstruieren, sollte das Wort ergreifen, wenn die Gesellschaft auf vermeintlich sichere Erkenntnisse hereinfällt.


Die angebrochene Übergangszeit können wir nutzen, um zu prüfen, was sich in welcher Weise verändern lässt. Aber auch diesbezüglich vermute ich, dass der Wandel, der kommen wird, der sich nicht aufhalten lässt, uns überraschen wird, weil sich ohnehin alles permanent verändert, so dass Nicht-Wandel erklärungsbedürftig ist, wie Fritz Simon betont. Möglicherweise ist das Social Distancing, die „Entfernung der Körper“, die eine „Ästhetik der Abwesenheit“ herausfordert, wie dies Dietmar Kamper in seinem gleichnamigen Buch bereits 1999 ausgeführt hat, mehr als ein Pandemie-Symptom. Es ist ein Zeichen für eine neue Zeit, die Kamper bereits Ende der 1990er Jahre heraufkommen sah. Diese Zeit ist nicht durch das Virus gekommen. Sondern mit der Pandemie wurde nur beschleunigt, was sich bereits seit Jahrzehnten andeutet. Als ich Dietmar Kamper 1996 anrief, um ihn zu fragen, ob er als Zweitgutachter meiner Doktorarbeit fungieren würde, vernahm ich seine aufgezeichnete Stimme: „Man nehme die Präsenz der Maschine für die Absenz der Person!“


 


 


Zurechnungsfähige Systemtheorie


von Steffen Roth


 


In Sachen Verantwortung der Systemtheorie kommt man zunächst kaum an Heinz von Foersters ethischem Imperativ vorbei: «Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten grösser wird». Gleichwohl ist ein Mehr an Alternativen systemtheoretisch betrachtet nicht zwangsläufig gut und erzeugt bei einer ganzen Reihe von Beobachtern regelmässig Überforderungserfahrungen, die dann Sehnsüchte wecken nach der bereits um die letzte Jahrhundertwende herum geadelten Freiheit, nicht wählen zu müssen. Zudem erzeugen einmal getroffene Entscheidungen regelmässig Abhängigkeiten von Pfaden, die man nicht ohne Grund eher selten bricht. Verantwortlich im Sinne von zurechnungsfähig ist vor diesem Hintergrund eine Theorie, die ihre Theorieentscheidungen als solche ausflaggt. Und just dieses Spiel mit der Transparenz der eigenen Theoriearchitektur ist etwas, das unsere Theorie besonders gut kann.


Zwar arbeiten auch wir mit einer Leitunterscheidung, die man als unhintergehbar betrachten muss, bevor man sie etwa mit der Unterscheidung Form/Medium hintergehen kann. Für diese Leitdifferenz gilt aber, was Luhmann etwa in seiner Einführung in die Systemtheorie auch für den Autopoiesisbegriff feststellt: dass mit der Unterscheidung von System und Umwelt «so gut wie nichts erklärt» und thematisch nichts festgelegt wird ausser der konsequenten Beobachtung von Beobachtung und einer gnadenlosen Disziplin beim Unterscheiden und Bezeichnen.


Was unsere Theorie demnach auszeichnet und einzigartig macht, ist ihre thematische Unbestimmtheit, die dafür sorgt, dass man auf unserer Theorieplattform andere Sozial- und Gesellschaftstheorieprogramme simulieren oder emulieren kann. In diesem Sinne lässt sich unsere Theorie als Prototyp einer digitalen Sozialtheorie bezeichnen: Wenn wir marxistisch beobachten wollen, fokussieren wir die Codes von Politik und Wirtschaft kombiniert mit den Leitunterscheidungen der Stratifikation. Wirtschaft und Gesellschaft oder Biopolitik führen ebenso wenig zum Systemabsturz wie Risiko, Information oder andere Pars-Pro-Toto-Gesellschaftstheorien. Auch Männer und Frauen beobachten wir problemlos mit George Spencer Brown.


Insofern unsere Theorie keine Grundannahmen bezüglich der herausragenden Bedeutung einzelner Segmente, Klassen oder Funktionssysteme der Gesellschaft pflegt, kann sie die Konstanten anderer Theorien als Variablen beobachten. So gehen wir eben gerade nicht davon aus, dass Politik und Wirtschaft per se systemrelevanter sind als Kunst und Religion, sondern beobachten semantische Trends auf der Ebene der Selbstbeschreibung einer Weltgesellschaft, die sich vor der aktuellen Krise vornehmlich (wenngleich womöglich in unzutreffender Weise) in Politik und Wirtschaft gespiegelt hat und in der Gesundheit künftig vielleicht eine grössere Rolle spielen wird. Tatsächlich vollzieht sich aktuell ein bemerkenswerter Medienwechsel von Geld auf Krankheit, in dessen Verlauf altbekannte politische Agenden in ebenso bemerkenswerter Reibungslosigkeit in neunormale Semantiken einrasten: Wohnungslosigkeit, Werkvertrag, Wohlstandsmigration, Wertschöpfungskette. Bei all dem ist der eigentliche Skandal nun nicht mehr die wirtschaftliche Schieflage, sondern das identifizierte Gesundheitsrisiko. Auf BBC war gestern über Langwelle gar zu hören, dass aufgrund des (am Beispiel Boris Johnsons offenkundig gemachten) Zusammenhangs von Übergewicht und COVID-19-Krankheitsverlauf nun konsequente politische Interventionen gegen Übergewicht geboten seien. Sobald Gesundheit draufsteht, scheint der Bürger inzwischen jede Pille zu schlucken.


Als mindestens ebenso folgenreich könnte sich erweisen, dass die aktuelle Krisensemantik systematisch eine positiv besetzte Leitsemantik der letzten Jahrzehnte diskreditiert: die des Netzwerks. Virale Fake News, Infektionsketten von unbekannter Netzwerktiefe, globale Lieferketten ins Herkunftsland der Krise, Networking-Events wie Raves, Konferenzen oder Messen, all das erscheint gerade hochproblematisch. Entsprechend überbietet sich Politik nun in ihrem Anspruch, soziale Netzwerke und Medien hochauflösend zu beobachten. Im Bereich der Kontrolle von Netzwerken scheint sich einiges aufgestaut zu haben. Nun entlädt es sich in Internetsäuberungsmassnahmen, Sprachhygiene, neunormaler Netiquette oder schlicht Verboten. Entsprechend fällt es zunehmend schwerer, die nächste Gesellschaft als Netzwerkgesellschaft zu denken: Der Inszenierung nach streamt sich gerade alles schön top-down. Wer will, sieht darin einen Angriff auf die zentrale alternativfördernde Leitsemantik meiner Generation und somit einen Anlass zum politischen Handeln.


All das Politisieren liegt meines Erachtens nach aber nicht in der von Heiko Kleve angemahnten Verantwortung der Systemtheorie. Wie jede Theorie ist die Systemtheorie ein wissenschaftliches Programm. Entsprechend liegt es in ihrer Verantwortung, sich und andere wissenschaftliche Programme entlang der wissenschaftlichen Leitunterscheidung wahr/falsch zu überprüfen. Dabei muss es theoretisch komplett irrelevant sein, ob eine Wahrheit auf dem Boden der demokratischen Grundordnung steht oder anderweitig politisch korrekt ist. Es muss komplett egal sein, ob sich mit einer Wahrheit Geld verdienen lässt. Es darf keinen Unterschied machen, ob eine Wahrheit Gott, Gaia oder Geistern unserer Ahnen gefällt. Eine Theorie, die sich einer Ideologie oder dem Programm irgendeines anderen Funktionssystems unterordnet, ist wissenschaftlich nicht zurechnungsfähig und in diesem Sinne unverantwortlich.


Entsprechend liegt die Verantwortung des Theoretikers ausgerechnet dort, wo ihn nun wirklich keiner haben will: Im Elfenbeinturm oder jedem anderen Platz im Sozialraum, an dem ein Theoretiker ob allein oder vernetzt eben das und nur das tun kann, das in seiner Verantwortung liegt: Theorie.


Gerade weil die politischen Antennen der Gesellschaft seit einiger Zeit so stark ausgeprägt sind, liegt es daher in der Verantwortung der Systemtheorie, auf dem Unterschied zwischen Wissenschaft, Politik und den anderen Funktionssystemen zu bestehen und sich als Wissenschaftsprogramm von den Programmen anderer Systeme regelmässig nicht mal thematisch irritieren zu lassen, egal wie ehrenwert das zumeist politische Anliegen ist: Geschlechtergleichstellung, Tierwohl, Umweltschutz, alles schön und gut, aber was ein verantwortungsvoller Theoretiker zu liefern hat ist Theorie und nicht Ideologie, Erziehung, Weltverbesserung oder irgendeine andere Art von Auftragsforschung.


Nur in Form von Nebeneffekten ihrer eigenen Sperrigkeit kann verantwortungsvolle Systemtheorie dann tatsächlich Theorieangebote machen, die Vertretern anderer Interessen als zielführende Programme erscheinen. Zum Beispiel: Wenn man etwas gegen den Klimawandel tun will und nicht versteht, warum man dabei auf so viel Widerstand oder Passivität in der Bevölkerung stösst, dann kann systemisches Denken nahelegen, in Zukunft auch mal nichtkonfrontative Kommunikationsstrategien zu wählen. Oder: Wenn man Antikapitalist ist und den Kapitalismus überwinden will, dann ist es womöglich hilfreich, weniger Zeit auf die Kritik politischer und wirtschaftlicher Missstände und mehr Zeit auf die Suche nach Lösungsansätzen auch aus anderen Funktionssystemen zu verwenden.


Auch was die aktuelle Krise angeht, kann verantwortungsvolle Systemtheorie im Sinne des doch irgendwie liebgewonnenen Imperativs Heinz von Foersters eben nicht kritisch, sondern alternativfördernd wirken, indem sie ab und an auch unpopuläre Positionen haltbar macht.


Die programmatische Hauptaufgabe verantwortungsvoller Systemtheorie bleibt aber die digitale Transformation von Sozialtheorie, in deren Ergebnis wir die digitalen Mess- und Analysemethoden des 21. Jahrhunderts nicht länger nur zum Testen antiquierter Buchtheorien, zur Algorithmisierung von Vorurteilen oder zur Modellierung von Urängsten einsetzen, sondern auch auf Höhe der Zeit theoretisch reflektieren können.


 


 


Die Verantwortung der Regierenden


von Fritz B. Simon


Es geht nicht darum, ob uns die Frage nach der Verantwortung der Systemtheorie gefällt oder nicht, denn sie ist schlicht und einfach unsinnig. Sie ist vergleichbar mit der Frage nach der „Verantwortung der Arithmetik für ...“ (ja, für was eigentlich?).


Verantwortung ist ein soziales Phänomen, d.h. irgendjemand soll antworten, wenn er/sie gefragt wird bzw. sich selbst fragt, wie er oder sie sein/ihr Handeln begründet und legitimiert. Und dieses Handeln begründet der/die „Verantwortliche“ meistens mit Hilfe einer (bewusst oder unbewusst zugrunde gelegten) Theorie.


Wenn ich also alle meine – in diesem Fall spärlichen – Fähigkeiten zur Empathie zusammenklaube, so schreibe ich Heiko Kleve zu, dass er eigentlich nach der Verantwortung „der“ Systemtheoretiker und Systemtheoretikerinnen fragen will.


Wenn er unter Berufung auf Albert Einstein und Paul Watzlawick darauf hinweist, dass unsere Theorien bestimmen, wie wir die Welt sehen (=konstruieren), so ist ihm natürlich zuzustimmen. Und die Feststellung, dass man aus einer systemtheoretischen Perspektive zu anderen Beschreibungen und Erklärungen gelangen kann, als unter Verwendung anderer theoretischer Modelle, wird hier auch niemand in Frage stellen. Allerdings kann mit dieser (=unserer) Perspektive kein höherer Wahrheitsanspruch verbunden sein, zumal wir – wie in anderen Wissenschaften auch zu beobachten – selbst unter Anwendung derselben (system-) theoretischen Prämissen zu höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen (deswegen können wir uns hier ja auch streiten, wo wir drei uns doch alle – irgendwie – als Systemtheoretiker verstehen).


Um die zitierte Metapher Paul Watzlawicks vom Unterschied zwischen Speisekarte und Speise aufzunehmen bzw. weiter zu entwickeln: Es reicht m. E. nicht zwischen beidem zu unterscheiden, sondern wir müssen in die Küche gehen und dem Koch sagen, was gekocht werden soll und welche Rezepte zu verwenden sind. Aber wir sind uns ja nicht einig, welche Speisen wir bestellen wollen. Das Problem ist daher weniger der Unterschied zwischen Speisekarte und Speise, sondern die Frage, was wir auf die Speisekarte schreiben wollen. Denn erst dann können wir uns Gedanken über die besten Rezepte dafür machen. Es geht also – um wieder aus der Küche rauszukommen – um die Handlungskonsequenzen unterschiedlicher theoretischer Modelle – und das bezogen auf die Corona-Krise. Es handelt sich dabei aber m.E. nicht primär um eine theoretische Frage, sondern um eine politische, und in der Hinsicht sind Systemtheoretiker und Systemtheoretikerinnen eben auch nur Bürger wie alle andern und haben keinen größeren Anspruch gehört zu werden als alle anderen.


Um eine andere Metapher Paul Watzlawicks zur Charakterisierung der aktuellen Krise und der Funktion von Wissenschaften zu verwenden: Ein Betrunkener sucht nachts unter einer Laterne nach seinem verlorenen Schlüssel. Befragt, ob er ihn denn dort verloren habe, antwortet er: „Nein, aber hier sehe ich besser!“ Die einzelnen Wissenschaften sind m.E. mit unterschiedlichen Straßenlaternen zu vergleichen, die jeweils einen anderen Bereich des Pflasters beleuchten. Die zentrale Frage ist nun nicht, wo der Schlüssel verloren worden ist (obwohl ihre Beantwortung von Nutzen sein kann), sondern: Wo ist er zu finden?


Was das betrifft, scheint mir, dass es bislang ganz gut war, sich der Suche von Virologen und Epidemiologen unter ihren Laternen anzuschließen. Denn die können wenigstens trotz ihres unvollständigen Wissens Handlungsanweisungen liefern, um das aus ihrer – und einer großen Zahl der Bürger – Sicht „Schlimmste“ zu verhindern. Mit worst-case-Szenarien zu arbeiten ist schon deshalb nützlich, weil man dann nur angenehm überrascht werden kann.


Wenn nun Hendrik Streek meint, es sei „an der Zeit“ auch Soziologen und Psychologen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, so ist das wohl kaum Ausdruck seiner fachlichen Bescheidenheit, sondern Einsicht in die unterschiedliche Notwendigkeit unterschiedlicher Maßnahmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Man muss seine Bemerkung m.E. so hören, dass es vorher „nicht an der Zeit“ war. Virologen scheinen mir über ein erstaunlich hohes Bewusstsein für Systemdynamiken, aber auch für die Grenzen ihres Faches, zu verfügen. Dass sie teilweise unterschiedlicher Meinung sind/waren, ist ein Merkmal der Qualität ihrer wissenschaftlichen Standards. Weder Herr Drosten noch all die anderen haben je die Macht, politische Entscheidungen zu treffen, für sich beansprucht, sondern immer gesagt: „Entscheiden muss die Politik!“


Damit zeigen sie m.E. ein Systemverständnis, das über das mancher Soziologen und vieler Psychologen weit hinausgeht. Ob da Systemtheoretiker wirklich mehr beizutragen gehabt hätten, kann man mit Fug und Recht bezweifeln, zumal Systemtheorie eben erst dann ihren praktischen Wert gewinnt, wenn ihr abstrakter Rahmen mit konkreten Inhalten gefüllt wird.


In einer Pandemie wie der aktuellen (denn sie ist ja keineswegs vorbei) war und ist Handeln gefragt – genauer gesagt: Es war schnelles Handeln gefragt, und das ist jetzt etwas anders. Wenn man Psychologen und Soziologen usw. in die Entscheidungsfindung einbezieht, so erfordert dies einen hohen Kommunikationsaufwand, d.h. es wird Zeit verbraucht. Wenn es schnell gehen muss – ich weiß, ich wiederhole mich – ist Hierachie am funktionellsten, weil am schnellsten (wenn auch mit Risiken behaftet). Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Und auch wenn die Welt komplexer ist, als jedes (!) theoretische Modell zu erfassen in der Lage ist, muss gehandelt werden. Der Rückgriff auf jahrhundertealtes Erfahrungswissen und die Priorisierung der Ziele hat die Virologen und Epidemiologen ins Spiel gebracht. Denn sie haben – jenseits von Sach- und Sozialdimension der Kommunikation – den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Zeitdimension gelenkt. Zeit entscheidet im Fall von Pandemien über Leben und Tod – und nebenbei stimmt sogar auch in diesem Fall, dass „Zeit Geld ist“, denn ein schneller Lockdown hat die Möglichkeit eröffnet, ihn auch wieder relativ schnell zu beenden (das ist, lieber Heiko Kleve, keine Frage der Moral, sondern ein ökonomisches Kalkül).


Dass Schnelligkeit wichtig war, zeigt der Vergleich zwischen Griechenland und Schweden. Beides europäische Länder mit etwa der gleichen Einwohnerzahl. In Griechenland gab es den ersten Erkrankungsfall am 26. Februar 2020, und die Regierung hat bereits ab 27. 2. 2020 mit dem Verbot von Karnevalsveranstaltungen o. Ä. reagiert und bald darauf auch den vollständigen Lockdown beschlossen. Schweden hingegen hat ganz auf den Lockdown verzichtet und auf freiwillige Maßnahmen der „mündigen Bürger“ gesetzt. Im schnellen Griechenland gab es (Stand: 28.6.20) 3343 Fälle von Covid-19-Infektionen und 191 Tote. Im „langsamen“ Schweden, das nun langsam über evtl. Lockdown-Maßnahmen nachzudenken beginnt, gab es 65137 Infektionsfälle und 5280 Todesfälle (damit gehört es zu den Ländern mit der höchsten Zahl an Opfern pro Million Einwohner weltweit). Interessanterweise sind solche Vergleiche nur unter langem Suchen in den Massenmedien zu finden (aber sie sind zu finden), da manche – nicht alle, aber z.B. die Bild-Zeitung – in ihrer populistischen Kurzsichtigkeit offenbar lieber Virologen jagen...


Also, um es auf den Punkt zu bringen: Ich denke nicht, dass die Systemtheoretiker oder Systemtheoretikerinnen zu leise waren oder sind. Wer an ihrer Meinung interessiert war, hätte sie – in all ihrer Widersprüchlichkeit – auch hören oder lesen können. Ob das wirklich von Nutzen gewesen wäre? Wahrscheinlich, wenn man sie direkt in die Krisenstäbe einbezogen hätte, um über konkrete Maßnahmen zu beraten. Aber nur dann. Ich persönlich halte es mit Ludwig Wittgenstein, der es ablehnte, die Veröffentlichung seines Tractatus Logico-Philosophicus dadurch zu ermöglichen, dass er die Druckkosten aus eigener Tasche finanziert (obwohl dies für ihn als Erben eines Millionenvermögens sicher kein finanzielles Problem gewesen wäre); seine Begründung (sinngemäß): „Ich habe der Welt dieses Werk gegeben, wenn die Welt es nicht will, ist sie selber schuld!“ Insgesamt scheint mir, haben sich viele Regierungen (gut zu sehen, weil es ja Vergleichsgruppen gibt) ganz gut geschlagen. Sie haben ihre Entscheidungen so getroffen, wie man im dichten Nebel, d.h. bei nur sehr beschränkter Sicht, Auto fahren sollte. Sie sind nicht auf freier Strecke stehen geblieben (um etwa mit Soziologen, Psychologen, Theologen, Astrologen usw. zu beratschlagen), sondern sind weitergefahren, schnell genug, um keine Auffahrunfälle zu verursachen, langsam genug, um nicht am nächsten Baum zu landen; und bei sich zögerlich klärender Sicht, haben sie auch das Tempo ein wenig beschleunigt. Ob das zu schnell war und ist, wird sich erst noch erweisen. Wenn man auf die Regierungen schaut, die schneller in ihrem Versuch waren, alles wieder zu „normalisieren“ (z.B. die im Süden der USA liegenden Bundesstaaten), so zeigt sich, wie schnell man – fast wie beim „Mensch ärgere dich nicht“-Spielen – wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen werden kann.


Die Verantwortung hat die Politik – nicht die Wissenschaft und schon gar nicht irgendeine Theorie. Und die Regierenden müssen nun mal unentscheidbare Fragen (d.h. sie sind konfrontiert mit pragmatischen Paradoxien) beantworten, denn nur in Fragen, deren Antworten nicht berechenbar sind, kann überhaupt entschieden werden. Dadurch verwandeln sie Gefahr (die Pandemie) in Risiko (z.B. die unkalkulierbren Folgen des Lockdown). Erst später wird man feststellen können, ob diese Fragen einigermaßen gut beantwortet wurden, d.h. ob die Regierenden ihrer Verantwortung hinreichend gerecht wurden.


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).