Kasuistik zwischen Individualität und Intersubjektivität

„Wie kann ich Soziale Arbeit lernen?“ lautet eine oftmals gestellte Frage an den österreichischen Fachhochschulen für Soziale Arbeit. Und in der Supervision: „Was ist in diesem Fall der angemessene Zugang?“
Auf beides kann u.a. die Kasuistik eine Antwort geben. Was aber ist diese Kasuistik?


Kasuistik ist die Lehre vom Fallverstehen (Hollenstein u. Kunz 2019): Die komparative Kasuistik versucht Fallsituationen zu systematisieren, um Erkenntnisse für die Theorie und Methodik Sozialer Arbeit zu abstrahieren. Diese gibt Antwort auf die erste Frage und kann als z.B. case study (Fallanalyse) der Sozialarbeitswissenschaft zum Erkenntnisgewinn gereichen.
Im Sinne der Praxeologie versucht der heuristische Zugang, Erkenntnisse für eine konkrete sozialarbeiterische Fallsituation anzuwenden. Heuristische Kasuistik versucht konkrete Handlungs- und Lösungsschritte für eine Fallsituation zu formulieren, etwa im Rahmen einer Teambesprechung, Intervision oder Supervision.


Es zeichnen sich m.E. zwei interessante Ebenen ab, die in einem unterschiedlichen Sinne anschlussfähig sein möchten: Eine tendenziell abstrahierende Form der Kasuistik sucht Anschluss an die Sozialarbeitswissenschaft mit dem Ziel intersubjektiv nachvollziehbare Ergebnisse. Gleichzeitig existiert eine auf die sozialarbeiterische Individualität und „Situationsorientierung“ abzielende Kasuistik, die konkretisierend zu operieren scheint.
Die eine Form fragt nach dem Allgemeinem, die andre nach dem Aktuellen, also dem Unmittelbar-Gegebenen.


Anschließend an den letzten Blogbeitrag „Individualität und Funktionalität“ möchte ich beide Zugänge darstellen. Beide begegnen mir in der Praxis: der allgemein-abstrakte als Lehrbeauftragter für Soziale Arbeit, der unmittelbar-konkrete als Supervisor. Und ich darf ergänzen, dass systemisch diese binäre Differenzierung hoch interessant ist. Meiner Erfahrung nach aber es unterschiedliche Abstufungen zwischen diesen beiden Polen geben kann: Sozialarbeitstheorie kann sehr genau und konkret auf Fallsituationen und fachlich angemessene Interaktion eingehen; Teambesprechung, Intervision und Supervision können sehr allgemein und abstrakt gehalten werden.


Beide Ebenen haben großes Potential; für beide Richtungen kann ein gemeinsamer Weg skizziert werden: eine „Quadratur“ der Kasuistik: ein vierdimensionaler Zugang. Handlungsleitend für die „Quadratur“ sind zum einen die Fallebenen (für / mit / von) nach Burkhard Müller (1999). Im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung als Selbstbeobachtung möchte ich zum andren eine Ebene hinzufügen: das „durch“.


Ich werde im Folgenden den kasuistischen Prozess als Forschung bezeichnen, um meine Gedanken leicht verständlich entwickeln zu können. Einfach skizziert bedeuten die vier Fallebenen nun:


FALL DURCH: Die erste Dimension verfolgt die Idee, dass die Forschung nicht unabhängig von der/dem Forscher:in ist. Im Sinne einer Selbstbeobachtung nehme ich mich in meiner Rolle als forschende Person wahr. Ich nehme dadurch eine gewisse subjektivistische Perspektive ein, die meine Forschung prägt. Hilfreiche Fragen sind:


Wer forscht?
Wie verstehe ich meine Rolle?
Inwieweit wirkt sich mein Rollenverständnis auf meine Forschungsarbeit bzw. den Forschungsgegenstand aus?


FALL VON: Dies richtet sich auf die sachlich-fachliche Ebene, den sogenannten thematischen Forschungsgestand. Hilfreiche Fragen sind:


Was wird erforscht?
Wie lautet der Forschungsgegenstand?
Was ist die sachliche bzw. thematische Ebene der Forschung?


FALL MIT: Nun wird erkundet, welche Zielgruppe hinsichtlich des Themas ins Interesse an der Forschung äußert. Dies ist die menschliche Seite der Forschung. Hilfreiche Fragen sind:


Wer möchte kasuistisch wen beforschen?
Was sind die Interessen der Forschungsbeteiligten?
Wie findet die Beziehungsaufnahme statt bzw. wie wird mit den Beteiligten geforscht?


FALL FÜR: In welchem kontextuellen Rahmen wird geforscht? Und was ist daher die Zielrichtung bzw. Zweckmäßigkeit der Forschung. Hilfreiche Fragen sind:


Was ist der Kontext, innerhalb dessen geforscht wird?
Wofür wird geforscht?
Was sind die Ergebnisse der Forschung – und wer trägt welchen Nutzen dadurch?


Wende ich diese Fragen an meine Situation an, so ergibt dies:
(DURCH) Ich bemerke in der Selbstreflexion einen Unterschied in meiner Rolle, ob ich nun als Lehrbeauftragter eine Fallanalyse (case study) durchführe oder situations- bzw. fallbezogen in der Supervision einen kasuistischen Prozess anleite.
(VON) Die Themen können sehr ähnliche sein, etwa ein Fall von Suchterkrankung, ein Fall von Kindeswohlgefährdung. Als Hypothese möchte ich formulieren: Diese Sachebene scheint eine Verbindung der zwei Zugänge zu sein.
(MIT) Hinsichtlich der Interaktion und der damit verbundenen Interessen bemerke ich in der Zielsetzung einen Unterschied zwischen den Studierenden der Sozialen Arbeit und den praktizierenden Sozialarbeiter:innen im Feld.
(FÜR) Ebenso verhält es sich mit den Ergebnissen, die sowohl von den Beteiligten als auch der Institution für unterschiedliche Zwecke und Ziele utilisiert werden. Supervisorische Kontexte verfolgen andere Interaktions- und Intentionsmuster als fallanalytische im Hochschul-Kontext.


Auf der Meta-Ebene möchte ich noch anmerken, dass meine Fallebene MIT die Studierenden oder Praktizierenden der Sozialen Arbeit umfasst. Studierende und Praktizierende der Sozialen Arbeit werden hier in der Anwendung der Ebene die Klient:innen als menschliche Seite des Forschungsgegenstandes anführen.


Ist Kasuistik eine intersubjektive und sozialarbeitstheoretische Herangehensweise in Form der Fallanalyse (case study)? Ist Kasuistik ein praxeologischer Zugang in Fallsituationen? Beides treffe ich in der Praxis an. Beides kann im Zuge der „Hypnosozialen Systemik“ durchgeführt werden.


Literatur


Burkhard, Müller (1999): Sozialpädagogisches Können: Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. 8. Auflage, aktualisiert und erweitert von Ursula Hochuli. Freiburg im Breisgau. (Lambertus).


Hollenstein, Lea u. Kunz, Regula (Hrsg.) (2019): Kasuistik in der Sozialen Arbeit: An Fällen lernen in Praxis und Hochschule. Freiburg im Breisgau. (Lambertus).