Brief 20: Hemmschwellen in Online-Gruppenarbeiten - von Sophia

Hallo Andrea,


der Hintergrund des 4. Axioms war mir bislang gar nicht bewusst. Tatsächlich ist das 4. Axiom für mich immer das diffuseste gewesen, welches ich wenig greifen konnte. Durch die bestehende Pandemie bekommt das 4. Axiom für mich eine aktuelle Bedeutung und Anwendung. In Zeiten dieser Pandemie findet der Austausch mit meinen Mitmenschen, wie du schon angesprochen hast, größtenteils im virtuellen Raum statt.


In meinem Studiengang wurde die veränderte Lernsituation meines Erachtens nach gut behandelt. Viele Vorlesungen wurden online hochgeladen und nicht live vorgetragen. Dadurch ist es möglich, sich Pausen einzuteilen und schwierige Passagen erneut anzuhören. Neben den Vorlesungen gibt es sogenannte „Workgroups“ und Diskussionen, die online stattfinden. Ganz wichtig für mich ist, ob live oder recorded, d.h. ob eine visuelle Darstellung das Gesagte begleitet, ob eine Verbindung des digitalen Aspekts der Sprache mit einer oder mehreren analogen Komponenten erfolgt: Einerseits durch die Stilmittel der Sprache. Wenn ich einen monotonen Monolog höre, würde mir die Motivation fehlen zuzuhören. Wohingegen ein Vortrag mit sprachlichen Spannungskurven, zum Beispiel Pausen, mich dazu anregt mitzudenken. Auch Fragen, die an die Studierenden gerichtet werden, steigern die Motivation zuzuhören und erhöhen die Spannung eines Online-Vortrags. Der entscheidende Unterschied zu einer Präsenz-Veranstaltung, welcher berücksichtigt werden muss, ist, dass die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit online vermindert ist. Meiner Meinung nach müssen Online-Veranstaltungen wesentlich aktiver gestaltet sein als dieselbe Veranstaltung in Präsenz, da wichtige Merkmale für das Gehirn wegfallen, an welche Erinnerung und Abrufung gekoppelt wird. Die Mimik meines Gegenübers mag noch erkennbar sein, aber ab den Schultern ist das Bild meist abgeschnitten. Gestik ist meistens kaum zu erkennen, und die olfaktorische Wahrnehmung entfällt komplett. Der Fokus wird dementsprechend auf die digitale (sprachliche) Ebene verlegt.


Ein Aspekt, der mir in Online-Gruppenarbeiten aufgefallen ist: Die Hemmschwelle, miteinander zu sprechen, liegt viel höher als in Präsenz. Teilweise war ich schon in Gruppen, wo wir uns für 10 Minuten angeschwiegen haben. Erstrecht wenn die Aufgabe lautete „Lest einen Text und sprecht über den“, konnte ich oft nicht differenzieren, ob meine Gruppenmitglieder lesen oder warten. Die analoge Kommunikation ist erheblich eingeschränkt. In Bezug auf das 4. Axiom finde ich erhebliche Unterschiede zu Deutschland und Libanon. Im Libanon zählt die Art, wie ich etwas sage, viel mehr als das, was ich sage. Analoge Modalitäten werden vermehrt in menschlicher Interaktion genutzt. Desweiteren habe ich bemerkt, dass der digitale Aspekt der Sprache nicht so stark wie in Deutschland zum sachlichen Informationsaustausch genutzt wird. Eine förmliche Beziehung gibt es selten im Libanon, auch Arbeitsverhältnisse liegen sehr häufig auf einer engen Beziehungsebene. Was insofern das 2. und 4. Axiom miteinander verknüpft, als man in einem engen Beziehungsverhältnis eher geneigt ist, die analogen Modalitäten zu analysieren, und in einem förmlichen Arbeitsverhältnis mehr Wert auf die Aussage des digitalen Aspekts legt. Das ist auch einer der Gründe, wieso es zu kulturellen Missverständnissen kommen kann – eine Kommunikation ohne diesen für mich empfundenen Überschwang an analogen Modalitäten.


Ein Sprichwort, welches man auch häufig zu hören bekommt, ist: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dem würde ich insofern widersprechen, als dass ein Bild, welches eine Landschaft darstellt, möglicherweise aussagekräftiger ist als eine Beschreibung ihrer. Allerdings kann ein Bild niemals einen komplizierten, vielschichtigen Sachverhalt ausreichend und verständlich darstellen. Um es auf die menschlichen analogen Modalitäten zurückzuführen: Nicht alles kann durch Körpersprache und Handlungen ausgedrückt werden. Gefühle, Stimmungen, Ablehnung, etc. können transportiert werden. Durch Skizzen und Bilder können auch noch Anleitungen verständlich gemacht werden. Wenn es aber zu Sachverhalten kommt, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden und verschiedene Aspekte miteinbeziehen, kommt man nicht drum rum auf der digitalen Ebene zuzuhören. Ich sehe den Bezug, den jeder Mensch zu diesem 4. Axiom hat, als ein Stück weit kulturell bzw. anerzogen an. Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man die Bedeutung, welche man den analogen und digitalen Modalitäten gibt, selbst wählen. Auch wenn es manchmal so scheint, ist Körpersprache keine universale Sprache, und so, wie manche Menschen digital sprachlich begabt sind, sind andere analog begabter. Im Alltag sollte man sich dessen bewusst werden, dass es sowohl beim Empfänger als auch beim Sender Störungen in der Kommunikation geben kann. Meiner Meinung nach kann man das nur ansprechen und sich selbst und dem Gegenüber sprachlich bewusst machen, da andernfalls Störungen eine gelungene Kommunikation verunmöglichen.


 


Sophia Saad
Sophia Saad

ist aufgewachsen und wohnt in Riegel. Schulabschluss Abitur 2019, Aufenthalt im Libanon nach dem Abitur (Familie väterlicherseits). Studienbeginn Liberal Arts and Sciences Wintersemester 20/21. Hobbys: Reiten und Lesen. Derzeit auch in Ausbildung zur Mediatorin.




Andrea Köhler-Ludescher
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/