Zeit

Geschätzte Kolleg:innen,


Zeit haben, Zeit einplanen, Zeit sparen, Zeit vergeuden, Zeit erbetteln, Zeit bekommen, auf die Zeit drücken, Zeit schenken, die Zeit vergessen, die Zeitung lesen, der Lauf der Zeit, im Wettlauf mit der Zeit, alles in seiner Zeit, die Zeiten ändern sich, die Zeit rast, die Zeit vergeht, die Zeit steht still, die Zeit heilt Wunden, das Zeitliche segnen...


Es regnet draußen. Ich bin im Trockenen, habe Zeit. Verplante Zeit erst am Nachmittag um vier, eine Televisionskonferenz. Jetzt ist 11, eine Luxussituation, ich habe jetzt noch Zeit zum Verschenken, muss sie mir nicht erbetteln, könnte Zeitung lesen, könnte auch Dinge tun, die schon lange darauf warten, dass ich für sie Zeit habe, wie dieser Beitrag. Gerne werde ich die Zeit etwas vergessen, schreiben, darüber wie die Zeit vergeht, sich die Zeiten ändern, wie die Zeit nicht stillstehen will, dass ich deshalb irgendwann und immer zeitnaher und unabänderlicher das Zeitliche segnen werde.


Normalerweise erhält man den Segen von anderen, bevor man dann langsam selber zerbröselt und kompostiert wird wie bei Franz Schweinberger in der Grossen Auflösung. Dass ich - kurz bevor meine eigene Zeit zu Ende geht - selber noch das zurückbleibende Zeitliche segnen könnte und damit alle und alles, was weiterhin im Zeitenlauf eingebunden bleibt, das überlege ich mir grad das erste Mal. Irgendwie ist das tröstlich. Üblicherweise rast bei mir die Zeit, da ist keine Zeit für solche Überlegungen. Und wenn die Zeit schmerzvoll stillgestanden ist wie früher, als ich nächtelang meine schreienden Kleinstkinder herumgetragen habe oder im Militär morgens um drei nach langen Tagen auf der Wache noch Runden um Fahrzeugparks gedreht habe, da habe ich mich auf der Uhr doch immer wieder versichert, ob die Zeit wirklich noch läuft.


In den letzten Jahren, im Wettlauf mit der Zeit habe ich womöglich verpasst, was wichtig gewesen wäre. Jedenfalls sagen und fragen das andere, wenn sie mir ihre Zeit schenken. Wenn dann noch mein Rücken oder die Hüften so sehr weh tun, für vieles keine Zeit mehr bleibt und ich sogar den Zeitpunkt vergesse, im See schwimmen zu gehen, dann kommen noch viel mehr solche Fragen: Wie gehe ich mit meiner Zeit um? Was wäre jetzt noch zu tun?


Gerade schaue ich wieder nach draußen, sehe und höre, wie es weiter ruhig regnet und tropft aus dem Grau. Da fühle ich mich wieder versöhnter, ich spüre mehr Ruhe. Nur wenn ich daran denke, wie unerbittlich die Zeit läuft und vergeht, dann kommt ein mulmiges Gefühl. Zeit hätte es ja viel, sie ist unendlich. Aber nicht für mich. Innerhalb eines Jahres sind meine Eltern gestorben. Sie haben einige Fotoalben hinterlassen, Erinnerungen an ihr Leben. Ich sehe meine Eltern als Kinder, mit meinen Großeltern, deren Geschwistern, ihren Freunden an Orten, die ich auch kannte, die nicht mehr sind wie damals. Die Zeit ist vergangen, offensichtlich. Soll ich die Fotoalben aufbewahren und damit Erinnerungen an frühere Zeiten immer wieder auffrischen? Kann ich so frühere Zeiten mitnehmen, womöglich weitergeben?


Im Moment beschäftigt mich und offenbar nicht nur mich, wie Kriege im Lauf der Zeit wieder zu Ende gehen oder ob sich die Zeiten wirklich ändern. Darüber gibt es nur schon in den neuesten Beiträgen im Blog einiges zu lesen. Konstanze Thomas blickt in Zuflucht zurück in die Ukraine ihrer Eltern und Großeltern, Klaus Schürger nähert sich in Lebendig Erinnern an das Dorf seiner Kindheit, Dorothea Kurteu moderiert in Caring Democracy sorgfältig erinnernde Gesprächsrunden und erwähnt aus Habiba Kreszmeier's Buch Natur-Dialoge den Unterschied von Abspeichern und Zugang gewinnen zum aktivem Gedächtnisraum, Sabina Fischer beschreibt in Angst das heimisch sein können in monatlichen Zyklen der Menstruation.


Die Zeit soll Wunden heilen. Soll ich also vergessen, Gras drüber wachsen lassen (das macht die Zeit von selbst) oder die früheren Zeiten vergolden (auch da hilft bestimmt die Zeit)? Oder soll ich vielmehr im Hier und Jetzt leben, im sympoietischen und elementaren Kontakt mit der Natur, wie das Sinha Weniger in Gesang der Schnecke beschreibt und Habiba Kreszmeier im Buch Natur-Dialoge? Oder vielleicht mehr in der Zukunft denken und fantasieren wie Hans-Peter Hufenus, der in Solide Verkuhung m Donbass schon vaccinisierte Krieger auf Knien kriechend Gras fressen sieht? Wenn sich die Zeiten nicht ändern, stellen wir sie uns halt anders vor. Das können wir Menschen und die Kunst ist dafür das schönste Zeugnis.


Die Zeit mitnehmen, ewig Zeit haben. Darauf gibt es Antworten. Unendlich ist die Zeit im Himmel und ziemlich unendlich auch auf Erden. Da gäbe es noch die Hölle, oder das Nirwana. Zur Auswahl stehen also Orte, wo die Zeit für ewig stehen bleibt. Ausser mit der Wiedergeburt, da würde wohl alles wieder von vorne beginnen und enden. Wie in der erwähnten Vorstellung der kompostierenden Grossen Auflösung von Franz Schweinberger. Nun, nach zwei Stunden hat es aufgehört zu regnen. Draussen sind wieder Kinder unterwegs. Das grosse Jubiläums-Stadtfest beginnt. Es dauert zweieinhalb Tage. Dann ist die Zeit um, das Fest vorbei. Was tue ich in dieser Zeit? Kommt Zeit? Kommt Rat? Ich glaube ich lasse mir Zeit.



Liebe Leser:innen und Freund:innen des wilden webens!
Auch wir lassen uns nun wieder etwas Zeit und wünschen derweilen allen alles Gute,
Astrid Habiba Kreszmeier



Jürg Brühlmann
Jürg Brühlmann

arbeitet als Berater von Organisationen insbesondere zum Thema Arbeitsgesundheit sowie zu Ausbildungsmethoden während der Arbeit mit Menschen in personenbezogenen Berufen. Naturbelassene Landschaften und Orte ermöglichen ihm mehr sinnliche Verbundenheit mit dem Leben und verschiedenen Zeiten in Momenten, Tagen, Jahren, Jahrhunderten...).




 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben.
Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Natur-Dialog Beratung, Systemischer Naturtherapie und Aufstellungsarbeit.
Sie ist Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches - das heisst auch für Öko-Systemisch-Feministisches.
Wirkt und schreibt, spricht in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand sowie über ihre persönliche Seite kreszmeier.org und als co-host des podcast sympoietics - Raum für Wechselseitiges.