Autorengespräch  zu „Neue Autorität in Haltung und Handlung“
Martin Lemme und Bruno Körner ist mit „Neue Autorität in der Schule – Präsenz und Beziehung im Schulalltag“ in der Reihe „Spickzettel für Lehrer“  ein Überraschungserfolg gelungen. Ihr neues Buch „Neue Autorität in Haltung und Handlung – ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung“ nimmt die Ideen im Kern wieder auf, jedoch so vertieft und verdichtet,  dass Praktizierende der unterschiedlichsten Professionen und Anwendungsfelder davon profitieren können. Das neue Buch erscheint im März 2018 und kann ab sofort vorbestellt werden. Wir sprachen mit den beiden Autoren darüber:

Worin besteht (sehr verkürzt gesprochen) das Konzept Neue Autorität oder worin liegen seine Vorzüge gegenüber einer ‚alten‘ Autorität?

Martin Lemme & Bruno Körner: Aus unserer Sicht sind besonders zwei Aspekte wichtig: Zum einen verzichtet neue Autorität auf die Durchsetzung von Macht und fokussiert auf die (Wieder-)Herstellung von Beziehung bzw. Kooperationsbereitschaft, denn eine Veränderung von Verhaltensweisen bei anderen (z.B. Kinder und Jugendlichen) setzt voraus, dass die betroffene Person zustimmt. Ziel ist dabei eine an den Bedürfnissen orientierte Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu fördern, nicht deren Gehorsam. Zum anderen setzt aus unserer Sicht die neue Autorität bei der erziehungsverantwortlichen Person bzw. ihrer Präsenz an. Es geht erstens um die Stärkung ihrer inneren Haltung, um Klarheit und Verantwortungsübernahme, zweitens um in der Möglichkeit, trotz kritischen Verhaltens Kooperationsangebote machen und in Beziehung bleiben zu können sowie drittens darum, sowohl im eigenen Handeln wie im eigenen Denken und Fühlen transparent und verbindlich zu sein sowie Unterstützung hinzuzuziehen. 

Stärke statt Macht – ein weiteres Ihrer programmatischen Begriffspaare – scheint eher auf das Selbstverständnis von Pädagogen abzuzielen. Beginnt Neue Autorität immer zuerst in den Köpfen von Lehrern und Erziehern?

Martin Lemme & Bruno Körner: Ja, denn wir gehen von einem Haltungs- und Handlungskonzept aus. Das bedeutet, dass die Veränderung der eigenen Haltung ausschlaggebend für die daraus folgenden Verhaltensweisen ist. Wenn Erziehungsverantwortliche Kindern und Jugendlichen begegnen, die in ihrem Verhalten ihre Not zum Ausdruck bringen, dies aber in einer destruktiven oder provokativen Art und Weise machen, dann können die Erziehungsverantwortlichen diesem Verhalten nur dann konstruktiv begegnen, wenn sie es selbst schaffen, innerlich ruhig und in der eigenen Gewissheit der Beziehungsgestaltung zu bleiben. Das weitere Vorgehen ist dann geprägt von mehr Präsenz und Nähe, also von eigener Aktivität. Es hängt somit nicht vom Verhalten der Kinder und Jugendlichen ab. Was gleichzeitig heißt, anzuerkennen, niemanden gegen seinen Willen zu etwas zwingen zu können. 

Worin liegt die Kernaufgabe einer Erziehung und Pädagogik, die auf strukturelle Machtlogiken verzichtet? 

Martin Lemme & Bruno Körner: Im Konzept der Neuen Autorität werden Maßnahmen überlegt, die auf folgenden Haltungsaspekten beruhen: 
Sie sollen beziehungsfördernd und entwicklungsorientiert sein
Sie bleiben Angebote und sind in der Durchführung nicht vom Verhalten des betroffenen Kindes abhängig
Sie bieten Möglichkeiten der Wiedergutmachung an und fordern keine Vergeltung, sie sind gewaltfrei
Sie Schaffen Nähe (Präsenz) statt Distanz und Abkehr
Achten die Bedürfnisse des Kindes stärker als die Bedürfnisse der Erwachsenen
Sind geprägt von Ruhe, Verzögerung, reiflicher Überlegung und Selbstkontrolle
Sie werden beharrlich wiederholt
Sie werden transparent gemacht für die Betroffenen selbst wie auch für eine wohlwollende Öffentlichkeit
Sie geschehen in Absprache mit den weiter beteiligten Personen und den Netzwerken

Wie wirkt Neue Autorität im schulischen Alltag?

Martin Lemme & Bruno Körner: Die Umsetzung der Neuen Autorität wurde von uns in beschrieben „Neue Autorität in der Schule – Präsenz und Beziehung im Schulalltag“. Das verdeutlicht, wie umfangreich eine erschöpfende Antwort sich zeigen müsste. Grundsätzlich gibt es für uns kein festgelegtes Ideal der Umsetzung. Jede Schule, die wir begleiten, entwickelt ganz eigene Vorgehensweisen und auch Leitbilder sowie Organisationsentwicklungen. 
(Ein Praxisbeispiel)
Eine Gesamtschule machte in Zusammenhang mit einem umfangreichen Mobbingfall eine Ankündigung (Vorgehensweise im Konzept):
„Wir, Eurer zuständiges Klassenteam, sind in großer Sorge um Euch und um die Sicherheit jeder und jedes einzelnen von Euch. Wir haben mitbekommen, dass einige von Euch andere in der Klasse beschimpft, beleidigt und auch auf Facebook bloßgestellt haben. Wir sehen darin Mobbing und dies ist für uns eine Form der Gewalt. Gewalt dulden wir an unsere Schule in keiner Form und werden dagegen vorgehen. Daher werden wir folgende Schritte unternehmen:
Zunächst haben wir bereits alle KollegInnen und die Schulleitung von unseren Beobachtungen berichtet.
Im nächsten Schritt werden wir Eure Eltern von unseren Beobachtungen in Kenntnis setzen und einen Elternabend dazu veranstalten. Gemeinsam werden wir dann weitere Schritte planen. 
Wir wissen mindestens von einigen, wer daran von Euch beteiligt ist. Jede und jeden einzelnen von diesen werden wir ansprechen, Gespräche mit Euren Eltern führen und dann weitere Schritte planen. 
Wir werden unseren Protest in besonderer Weise mit Schweigen sichtbar machen und Euch um Vorschläge für Lösungen anfragen. 
Keine Angst, niemand wird der Schule verwiesen. Doch wir erwarten Wiedergutmachungen und Entschuldigungen, die der Klasse sichtbar gemacht werden.  
Auch werden wir ein Projekt mit Euch dazu durchführen. 
Alle Ergebnisse und Vorgehensweisen werden der Schulleitung den KollegInnen, Euren Eltern und Euch sichtbar und transparent gemacht. 
Wir tun dies, weil ihr uns alle wichtig seid!
Und wir werden uns auch in Zukunft dafür einsetzen, dass Gewalt an dieser Schule in keiner Form geduldet wird. Euer Klassen-Team“

Wo erkennen Sie außerhalb der Schule weitere Kernbereiche, in denen Neue Autorität wirksam werden sollte?

Martin Lemme & Bruno Körner: Wir sehen verschiedene Bereiche, in denen das Konzept bereits jetzt zunehmend mehr Anerkennung findet. Dies ist neben der Beratung und dem Coaching von Eltern, der Umsetzung in Schule und Jugend – wie heilpädagogischer Hilfe – vor allem der Bereich von Führung in Institutionen und Unternehmen. Daraus folgt auch, dass das Konzept eine zunehmende Bedeutung in Politik und gesellschaftlichen Prozessen erlangen sollte. Auch in der Psychotherapie sehen wir es als sehr hilfreich und innovativ an.

Sie publizieren und haben das Systemische Institut für Neue Autorität (SyNA) gegründet, um die Idee "Neue Autorität" in Vorträgen, Fortbildungen, Seminaren und Tagungen zu verbreiten. Sollte es auch ein Ziel sein, Neue Autorität zum integralen Bestandteil von regulären Ausbildungen, z.B. an Hochschulen zu machen?

Martin Lemme & Bruno Körner: Das wäre eine prima Vorstellung und findet zunehmend auch mehr Anhänger. Aktuell werden die angehenden SchulleiterInnen in Hessen im Rahmen der Schulleiterqualifikation alle mit diesem Konzept als Führungsmodell bekannt gemacht. An der Fernuniversität Kassel „Unikims“ gibt es bereits seit 2015 einen Lehrbrief dazu von uns. Wünschenswert wäre eine entsprechende Integration vor allem in der Ausbildungen pädagogischer Berufe wie ErzieherInnen, Sozial- und HeilpädgogInnen wie auch LehrerInnen.

Carl-Auer-Literaturtipps:
Martin Lemme, Bruno Körner: 
„Neue Autorität in der Schule – Präsenz und Beziehung im Schulalltag“
Martin Lemme, Bruno Körner:
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