Kollektivschuld

Als ich die Berichte hörte und die Statisken las, nach denen die Gewalt gegen Ausländer sich in Deutschland in diesem Jahr verdoppelt hat, kam mir ein Begriff in den Sinn, über den ich sicher in den letzten 45 Jahren nicht mehr nachgedacht habe und den ich seither auch nicht mehr gehört habe: Kollektivschuld. In den 50er und 60er Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob die Deutschen insgesamt (=kollektiv) Schuld an den Naziverbrechen tragen. Als dann mit dem ersten Auschwitzprozeß die "eigentlichen" Täter vor Gericht landeten, beruhigte sich diese Diskussion: Man konnte sich selbst distanzieren, weil ja die Mörder Namen und Gesicht hatten und sogar vor Gericht landeten.


Wenn ich jetzt aber - nachdem ich mich die Hälfte meines Lebens mit der Funktionslogik und Dynamik sozialer Systeme beschäftigt habe - sehe, dass Flüchtlingsheime brennen, Ausländer zusammen geschlagen werden usw., bin ich mir nicht mehr so sicher, dass der Begriff der Kollektivschuld nicht doch angebracht war - und ist.


Soziale Systeme konfrontieren uns ja mit dem Paradox, dass wir sie als Einzelne nicht kontrollieren können, aber uns sehr wohl Verantwortung dafür zukommt, wie sie funktionieren, weil bzw. wie wir uns an ihnen - der Kommunikation - beteiligen. Wir können uns - das ist in Face-to-face-Kommunikation natürlich einfacher und deutlicher als auf der politischen Ebene - gegen die Spielregeln des Systems wehren, unser Veto einlegen, Widerstand leisten.


Das gilt für diejenigen, die Angst davor haben, dass in wenigen Jahren Europa von Dschihadisten regiert wird, natürlich genauso wie für diejenigen, die fürchten, dass die alten Nazis aus ihren Gräbern steigen.


Wenn ich mir die konkreten Gefahren ansehe, so scheinen mir alle, die fremdenfeindliche Propaganda betreiben, den Weg für die genannten Gewalttaten gebahnt zu haben. Und ich finde, dem muss man was entgegen setzen (nicht nur die Polizei, aber die an erster Stelle; es sind bislang - ein Skandal - nur wenige Ermittlungsverfahren gegen all die Brandstifter eingeleitet oder erfolgreich).


Mir persönlich scheint die Sorge, dass potente junge Araber Europa übernehmen, nicht sehr berechtigt, denn die westliche Kultur ist einfach zu attraktiv, als dass das wörtlich interpretierte Gedankengut des 7. Jahrhunderts aus dem Koran eine Chance hätte.


Und die Gewalt der islamistischen Attentäter? Da kann und muss der Staat seiner Aufgabe, Sicherheit - wie gegenüber anderen Kriminellen oder früher der RAF - zu gewährleisten, gerecht werden. Das Risiko bei solch einem Attentat ums Leben zu kommen, scheint mir nicht größer als von einem Ziegelstein, der vom Dach fällt, erschlagen zu werden (wahrscheinlich werde ich jetzt von einem irren islamistischen Axtmörder während einer Tagung, wo ich genau das verkünde, zufällig erschlagen werden... - shit happens).


Quelle: Flüchtlinge: Rechte Gewalt gegen Ausländer nimmt zu - SPIEGEL ONLINE