Repetition und kein Ende?

Es gibt eine negative Konstante im deutschen Schulwesen. Seit alters her: das Ausmustern. Vogel friss oder stirb! 250 000 am Ende des vergangenen Schuljahres, wie Herr Simon zu berichten wusste. In den 1960-er Jahren erfand jemand dafür die Zustandsbezeichnung Sitzenbleiberelend. Es gab Zeiten, da war es schlimmer als heute. Doch es wurde auch danach noch Jahrzehnte lang hingenommen wie ein Naturereignis. Oder sagen wir eher wie ein mittelalterliches Gottesurteil. Bis heute! Ich erinnere mich an Jahre, in denen ich damals als Leiter einer Realschule 50 und mehr Schüler aufgenommen habe, die wegen mehrfacher Nichtversetzung das Gymnasium verlassen mussten.


Es gibt Hoffnung: Vereinzelt sagten Schulen diesem Elend lange schon den Kampf an. Anfang Mai habe ich hier zum wiederholten Mal auf eine von ihnen hingewiesen, das Friedrich-Schiller-Gymnasium Marbach (Stichwort: „Nicht ausbildungsfähig“), an dem es seit Jahren dank eines engagierten Projekts der ganzen Schule kaum mehr Nichtversetzungen gibt. Diese Schulen beweisen: Schulen können handeln, und Nichtversetzungen können vermieden werden. Mit Methode und Engagement.


Leider liegt die Konstruktion des Schulsystems mit ihren viel zu hierarchischen Mechanismen wie ein Netz von Bremsklötzen über der Landschaft, jederzeit wirkungsmächtig. Aber selbst das ist kein Hindernis, mit den Versetzungsregeln an den Schulen konstruktiv zu Gunsten der Schüler umzugehen. Schulen haben da Spielraum, der viel zu wenig genutzt wird. Sogar Bayern lässt seit einigen Jahren nachträgliche Versetzungen (nach den Sommerferien) zu.


Dass das an der breiten Mehrheit der Schulen aller Art anders praktiziert wird, liegt weniger an schulgesetzlichen Regeln als an der Unbeweglichkeit und Fantasielosigkeit der Lehrer und Schulleiter. Tut mir leid, das als Insider so klar sagen zu müssen. Warum sollte nicht die Allgemeinheit der Eltern quer durch die Republik von den Schulen entsprechende Lernfähigkeit und Engagement verlangen, diese gar in diese Richtung unter Druck setzen? Wie wäre es mit Bündnissen für erfolgreichen Schulbesuch? Eine Bürgerbewegung zur Abschaffung der Nichtversetzung wäre hilfreich, um die berechtigte Forderung nach mehr Qualifizierung im System, also mehr Effizienz des Lernens zu unterstützen.


Allerdings: Es wird den Schülern – allen guten Absichtserklärungen zum Trotz - nach wie vor viel zu viel „Stoff“ aufoktroyiert. Vor allem, aber nicht nur die Schulzeitverkürzung an den Gymnasien ist dafür verantwortlich. Dazu alte Wichtigtuerei und Fachegoismen. Reduzierung ist vordringlich. Was würde denn passieren, wenn die Lehrer Un von sich aus den Plan um Verzichtbares eindampfen würden? Ich bin sicher: Kein Hahn würde danach krähen! Was durch massenhaften Unterrichtsausfall verloren geht, tut das offenbar ziemlich schadlos.


Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Was wir im Schulsystem vor allem brauchen, ist eine Änderung des Denkens. Es geht nicht an, den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Widerspruch zwischen Qualifikation und Selektion weiterhin auf dem bequemen Weg zu lösen und Jahr für Jahr hunderttausende Familien (und besonders die betroffenen Jugendlichen) per Nichtversetzungsdekret ins Unglück zu stürzen.


Der frühere Göttinger Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth befruchtete in den 1960-er Jahren die Diskussion um die Schulreform, indem er dem Begriff der Begabung das Verb begaben entgegen setzte. Er hat damit die herrschende Vorstellung von Begabung als etwas Statischem kräftig durcheinander gewirbelt. Leider ohne nachhaltige Folgen, wie sich bis heute zeigt. Würden wir in unserer schulischen Arbeit inzwischen auf diesem Denken aufbauen und nach dem schlichten Grundsatz handeln, unsere Schüler zu begaben, hätte sich das Sitzenbleiberproblem vermutlich wie von alleine aufgelöst. Und das Schattenreich des Nachhilfeunterrichts mit seinem jährlichen Milliardenumsatz dazu. Der Perspektivenwechsel – oder sagen wir gar Paradigmenwechsel – ist unverzichtbar. Er wird durch die Ergebnisse der Hirnforschung gestützt, als Plastizität des Gehirns beschrieben. Der Mensch ist ein lernendes Wesen!


Es gibt inzwischen so viele positive Beispiele für eine geänderte Lernkultur in den Schulen, dass diese Forderung keine ferne Utopie mehr scheint. Ich nenne die Schulen, die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden sind, das „Netzwerk innovativer Schulen“ und die in dem von Reinhard Kahl gegründeten Netzwerk „Archiv der Zukunft“ lose organisierten Reformschulen im gesamten deutschsprachigen Raum. Auch an vielen ganz gewöhnlichen Schulen tut sich eine Menge an Positivem. Das lässt hoffen.


Das Thema ist vielschichtig. Demnächst können Sie hier weiteres lesen zur neuen Lernkultur und zu einem neu belebten alten Begriff: Mathetik, die Lernkunst.