Vorhölle

Alle Jahre wieder erhalte ich über die Weihnachtstage Besuch der alten Damen. Es sind drei an der Zahl, und das Durchschnittsalter liegt bei etwa 90. Wenn dann die letzten gemeinsamen Gesprächsthemen verbraucht sind, wird der Fernsehapparat angestellt: Volksmusik.


Es ist, als ob wir dort weiter gemacht hätten, wo wir im Vorjahr aufgehört haben.


Und inzwischen bin ich zum Experten geworden, der wahrscheinlich bei "Wetten dass..." auftreten könnte. Ich kenne sie alle, die Stars der Szene:


Das beginnt bei Hansi Hinterseer, geht weiter mit Stefan Mross, seiner Frau Stefanie Hertel, ihrem Vater Eberhard. Präsentiert wird das alles von Carolin Reiber oder aber von Hansi Hinterseer oder aber Florian Silbereisen (man besucht sich gegenseitig in den Sendungen, in denen immer auch dieselben Menschen auftreten:


Die Hofmänner (zwei Frauen), Maria Hellwig und ihre Tochter Margot (dass Maria noch lebt, scheint mir eigentlich unwahrscheinlich, denn ich erinnere mich, dass ich im zarten Alter von 9 Jahren im Urlaub mit meinen Eltern in Waging am See Zeuge eines ihrer Auftritte wurde - und schon damals erschien sie mir sehr alt).


Christina Bach, Gaby Albrecht, Michelle, dann verschiedene Boygroups mit so hübschen Namen wie: Wildecker Herzbuben, Volksmusikspatzen, Kastelruther Spatzen (sie singen alle über Liebe und Heimat).


Judith und Mel, nicht zu vergessen Heino (der aber diesmal nicht dabei war, weil er am Herzen operiert wurde), Berhard Brink, Patrick Lindner (der ein russisches Adoptivkind hat - wie Gerd Schröder - dem aber der Freund weggelaufen ist - nicht dem Schröder, dem Lindner -, so dass er jetzt allein mit dem Kind da sitzt).


Dann natürlich Angela Wiedel, der das Kind gestorben ist, und deshalb ist die Ehe kaputt gegangen. Den Vornamen von Herrn Sattler aus Südtirol habe ich mir nicht merken können, aber er hat ein Gesicht wie von einem Herrgottschnitzer gemacht. Seine Frau hat jetzt an einem Krippenkurs teilgenommen. Gotthilf Fischer gehört auch noch dazu mit seinen Chören. Apropos Chöre: der Chor der Engelsstimmen, der Montanara Chor, die Hoameligen, die Sterzinger Andachtsjodler


Günther Emmerlich repräsentiert mit Jutta Freudenberg die DDR. Günter Wefel kommt dagegen was weiß ich woher... Marianne und Michael. Die Geschwister Stadler. Lena Valaitis. Eva Habermann. Edith Brock. Roswita und ihre vier Töchter (oder waren es nur drei?).


"Peter, heute Nacht wird es etwas später..."


Karl Moik ist ja nicht mehr im Beruf. Und Carolin Reiber lacht nicht, weil sie Angst hat, dass die Nähte platzen.


Soviel ist für mich in diesen Tagen klar geworden: Bislang habe ich in meinem Leben emotional schwer zu bewältigende Situationen oft durch das Einnehmen einer - mehr oder weniger - wissenschaftlichen Außenperspektive bewältigen können. So bin ich Familienforscher geworden, habe Bücher über Krieg, Terror und andere "an sich" schreckliche Dinge verfasst. Mein Versuch, dies bei der Volksmusik ebenso zu machen, hat zwar zu der oben aufgeführten Datensammlung geführt, aber keine Entlastung gebracht. Es war die Hölle oder vielleicht doch nur die Vorhölle, denn ich wußte, es würde zu Ende gehen. Wenn ich ein Bild der Hölle malen sollte, so wäre es: dauerhafte Volksmusik ohne Hoffnung auf ein Ende.