Blog-Selbsterfahrung

Ich habe es nicht beschlossen, aber irgendwie hat es sich im Laufe meines Lebens so ergeben (und als mir das bewusst wurde, habe ich es dann auch zum Prinzip erhoben): Wenn ich über etwas schreibe, so versuche ich das nicht allein aus der Außenperspektive des Beobachters zu tun, der theoriegeleitet analysiert (das auch), sondern, wann und wo immer es geht, auch aus der Innenperspektive, d.h. mit dem Erleben des Betroffenen.


Über die Psychiatrie konnte ich schreiben, weil ich da lange in unterschiedlichen institutionellen Kontexten gearbeitet habe (eigentlich hätte ich natürlich auch ein Pseudo-Patienten-Praktikum absolvieren müssen). Über Familie konnte ich schreiben, weil ich unterschiedliche Rollen selbst ausprobiert habe (außer dem Gebären - ein Manko; aber ich war bei etlichen Geburten dabei und muss gestehen, dass ich in diesen Situationen immer froh war Mann zu sein und nie mit den werdenden, sich quälenden Mütter tauschen wollte), Rassismus kenne ich auch aus eigener Erfahrung (ohne hier näher drauf eingehen zu wollen), und um Unternehmensberatung zu betreiben, bin ich Unternehmer geworden usw.;  da die neuen Medien in aller Munde sind, habe ich diesen Blog auch als Experimentierraum für mich eröffnet.


Hier ein paar Aspekte meiner dabei vollzogenen Selbsterfahrung. Das Schöne an dem Medium ist, dass man ganz schnell ein paar Ideen und Gedanken in die Welt setzen kann und das eigene "leise Vorsichhinsprechen" von potenziell vielen Leuten gehört wird, und man erhält ein manchmal nützliches Feedback und Anregungen (Dank an alle, die mir da Türen geöffnet haben).


Wie andere Publikationen wirkt auch ein Post in der Kehrwoche wie eine Bekannschaftsanzeige. Man trifft Leute, die man nicht getroffen hätte, wenn man nichts geschrieben hätte. Es ist interessant, wer sich da angesprochen fühlt. Manchmal sehr nette und differenzierte, an fachlichem Austausch interessierte Menschen, manchmal auch Stinkstiefel, Arschlöcher, Ekelpakete... Aber irgendwie hat man sich diese Bekanntschaften durch das, was man schreibt ja immer selbst "verdient". Das warf und wirft bei mir die Frage auf, ob die Botschaften, die von anderen Menschen empfangen werden, wirklich die sind, die ich geben wollte und will, bzw. wie ich es geschafft habe, dass solche Leute sich durch mich und meine Texte angezogen fühlen. Beruhinged ist und war dabei: Wir alle sind ja eine Art fleischgewordener Rorschachtest - Projektionsschirme, auf die an Bildern geworfen werden kann, was immer der Werfer mag oder muss.


Ein anderer Aspekt, der mir auffiel, ist, dass das Medium sehr schnell - manchmal zu schnell - ist. Ich persönlich gelte als schlagfertig, und in jüngeren Jahren habe ich oft nach dem Prinzip gehandelt: Lieber einen Freund verloren als eine gute Pointe nicht genutzt. So war ich oft bei manchen Kommentatoren in Versuchung, diese - meine eigentliche - Kernkompetenz zu praktizieren. Ich war schnell dabei, ein paar Worte in die Tasten zu hauen, die einen Kommentator ziemlich schlecht und dürftig aussehen liessen (was manchmal wirklich nicht schwer war). Wenn ich das rechtzeitig merkte, löschte ich meine Replik auf irgendeinen Schwachsinns- oder Ekelkommentar und publizierte ihn nicht; eine für mich anstrengende Übung in Selbstdisziplin. Nicht immer, befürchte ich, war ich dabei erfolgreich. Denn eigentlich finde ich es nicht akzeptabel, sich mit einer (wahrscheinlich) voyeuristisch zuschauenden Menge gegen irgendeinen Einzelnen zu verbünden. Gegen meine Fähigkeit zur Bosheit hat kaum einer eine Chance: Erstens bin ich meist schneller als die anderen Leute, und zweitens habe ich mich lange genug mit Psychologie und Psychotherapie beschäftigt, um zu wissen, wie man jemanden professionell kränkt. Hier Inhalts- und Beziehungsaspekt auseinander zu halten, was ich von den Kommentatoren immer wieder verlangte, fiel mir selbst (auch) einigermaßen schwer.


Um diese wenigen Punkte zu verallgemeinern bzw. einen der politischen Schlüsse, die ich aus meiner Erfahrung ziehe, zu benennen: Alle Ideen, man könne durch das Internet und soziale Medien die Demokratie befördern, halte ich für absolut idiotisch. Wenn man sich z.B. die durch das Internet groß gewordene Grillo-Bewegung (M5S) in Italien ansieht, so wird deutlich, dass dabei keine besseren Entscheidungen zustande kommen (siehe die "Erfolge" der - wie ich finde - sehr sympathischen Bürgermeisterin von Rom, Frau Raggi, oder das Untergehen des Herrn di Maio in der aktuellen italienischen Regierung in der Kooperation mit Herrn Salvini und seiner Partei, einer Organisation, d.h. keiner nur mäßig organisierten "Bewegung"). Was durch die vermeintlich mögliche Basisdemokratie des Netzes erreicht wird, ist im besten Fall sterile Aufgeregtheit, die sich dann multipliziert. Der Vorteil der repräsentativen Demokratie ist, dass zwar jeder zu jedem Thema am Stamm- oder Esstisch seinen Senf dazu geben kann, aber er oder sie kann nicht direkt an konkreten Sachentscheidungen, die Fachkenntnis und Einarbeitung in Themen erfordern, mitbestimmen. Alle paar Jahre zu überprüfen, ob man mit den Repräsentanten bzw. den durch die Repräsentanten getroffenen Entscheidungen leben kann oder zu unzufrieden ist, scheint mir als Korrektiv wirksam und ausreichend.


Aber das ist natürlich ein ganz anderes Thema...


Bleibt noch zu sagen, dass ich mich nach dem Beschluss, die Kommentare zu stoppen, so fühle, wie nach dem Jäten von Unkraut im Garten oder nach einer erfrischenden Dusche, nachdem ich lange Nächte in einem zu engen Zelt gelegen und ziemlich übel gerochen habe...