Brexit - Vorwärts in die Vergangenheit

Die Engländer (nicht unbedingt die Briten) haben sich für das Verlassen der EU entschieden. Sicher ist dies, wie der Aufstieg populistischer Bewegungen in der ganzen westlichen Welt, ein Zeichen dafür, dass große Teile der Bevölkerung nicht zufrieden mit der Politik sind. Dass die EU als Sündenbock herhalten muss, hat m.E. nicht wirklich so sehr mit dem Versagen der EU zu tun, als vielmehr damit, dass sie schon lange als Sündenbock genutzt wird, wenn auf nationaler Ebene Politiker versuchen, sich der Verantwortung für ihre eigene Politik zu entziehen.


Wenn wir uns die aktuelle Lage anschauen bzw. die konkreten Punkte, die in GB im Rahmen der Wahlkampagne als Grund für den Abschied von der EU angeführt wurden, so sind es die (angeblich) ungeregelte Zuwanderung (Flüchtlinge) und die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft. Es ist (aus meiner Sicht) eine Ironie der Geschichte, dass diese beiden Phänomene der EU zugeschrieben werden, da beide zu einem guten Teil durch die britische Politik herbei geführt wurden. Das fängt, wenn wir die aktuelle Flüchtlingskrise (Syrien/Irak) betrachten, bereits beim Sykes-Picot-Abkommen aus dem Jahre 1916 an, durch das willkürlich, ohne Berücksichtigung der gewachsenen ethnischen und religiösen Unterschiede von den Kolonialmächten Frankreich und GB am Schreibtisch Ländergrenzen gezogen wurden, die nichts mit dem gelebten Alltag zu tun hatten und habe. Langfristige Folge davon waren und sind die Auseinandersetzungen zwischen (z.B.) Schiiten und Sunniten im vorderen Orient. Dass die Briten dann auch noch in den schwachsinnigen Krieg gegen Saddam Hussein gezogen sind, hat das Desaster dort zu einem großen Teil mitverursacht.


Und was die Ungleichheit zwischen Arm und Reich angeht, die sich mit der zunehmenden Globalisierung auch in GB zeigt, so haben Margaret Thatcher und Ronald Reagan mit ihrer Deregulierungspolitik für den Abbau des Sozialstaates gesorgt, so bescheiden der zum Teil auch war. Auf jeden Fall sind in GB dadurch viele Absicherungen der arbeitenden Bevölkerung niedergerissen worden, was u.a. Folge der Entmachtung der Gewerkschaften war. Dass auf dem Kontinent dieser "neoliberale" Kahlschlag weniger stark war als in GB, war auch ein Verdienst der EU, da z.B. in Frankreich die Gewerkschaften immer noch kämpferischer sind als in GB (oder in Deutschland).


Also, eine ziemlich paradoxe Geschichte. Den Preis werden wohl eher die Bürger Groß-Britanniens zu zahlen haben als der Rest Europas. Denn der Austritt aus der EU ist ja ein Regressionsschritt, ausgelöst durch die Hoffnung, dass alles wieder so werden könnte wir früher, als alles noch gut war... (was natürlich illusionär ist). Es zwickt und klemmt halt zwangsläufig, wenn man nach vielen Jahren versucht, wieder in seinen Erstkommunionsanzug zu schlüpfen.


Und aus systemischer Sicht gilt natürlich: Lasst uns sehen, welche Chancen in dieser Entwicklung stecken: Die EU wird die Briten los, die immer nur das Beste aus allen Welten wollten (Rosinenpickerei), den neoliberalen Strömungen in der EU/in Deutschland wird der Hahn ein wenig mehr zugedreht, TTIP wird jetzt wahrscheinlich erst mal nicht kommen, die Austeritätspolitik wird nicht mehr so konsequent durchgezogen werden, die nationalen Politiker werden sich vielleicht hüten, weiter wie bisher ungehemmt auf Europa zu schimpfen. Und die Cameron-Seehofer-Strategie, bei der versucht wird, die Populisten rechts zu überholen wird hoffentlich aufgrund ihres Scheiterns weniger Anhänger finden. Vielleicht finden sich auch endlich ein paar Politiker, die entschieden öffentlich für Europa kämpfen, und es kommt zur Bildung eines Kerneuropas, das mehr Integration wagt.  Wer weiß... spannende Zeiten.