Einkehr

Liebe Leserinnen und Leser!


Heute kehre ich ein.


Ich kehre im Forum ein. Die früheren Erfahrungen, die ich mit Internet-Foren gemacht habe, entsprechen den jetzigen. Es kehrt also etwas wieder. Nach meinem Verständnis von systemisch hat dies eine systemische Bedeutung, der ich gerne heute nachgehen würde. Ich werde also nicht über ein allgemeines Thema schreiben, das ich gerade in der Zeitung gelesen habe, oder über ein Thema, das meiner beruflichen Realität entspringt (die nicht darin besteht, Internet-Foren zu bedienen oder die Beiträge, die dort geschrieben werden zu verlegen) oder einer Realität, die nicht in diesem Forum stattfindet (aber natürlich ist alles systemisch vernetzt, klar, grenzenlos). In letzter Zeit habe ich mich mit der "verkannten Stimme des Realen" beschäftigt und fühle mich deshalb dazu veranlaßt, mich in meinem heutigen Beitrag so zu verhalten. Insofern schreibe ich also mittelbar doch über einen indirekten Gegenstand. Aber wann tun wir das nicht.


Die Verleger des Carl-Auer-Verlages und das Team des Carl-Auer-Verlages haben natürlich eine systemisch motivierte Idee gut umgesetzt, indem sie nicht einfach nur ein Forum für die Leser einrichten und dann warten, was die Leser zu berichten haben (es sind nach einem Internet-Zählwerk täglich 5000 Besucher in der Kehrwoche zu verzeichnen, wobei dabei auch alle in Google oder anderen Suchmaschinen aufgelisteten "Fundstellen" mitgezählt werden, vielleicht aber auch bei besseren Zählwerken wirklich nur die Besucher eines jeweiligen Beitrages. Dennoch ist nicht gewährleistet, inwiefern wirklich 5000 Beuscher das lesen was die Autoren der Kehrwoche geschrieben haben. Ich unterscheide vielleicht zwischen Kunden und Gästen oder Besuchern). Foren "funktionieren" nur mit einem eindeutig definierten Input. Gratulation an das Carl-Auer-Team! Das Forum funktioniert einwandfrei. Es gibt täglich neue Beiträge und ich bin in dieser Woche mit hoher Motivation dabei, solche Beiträge zu schreiben. Hohe Motivation heißt automatisch, daß ich es auch gerne schreibe.


Soeben kommt meine Sekretärin und ich werde mich mit ihr dem Alltag meiner Praxis widmen müssen und das ist gut so. Ich werde mir dennoch noch ein paar Minuten Zeit nehmen, meine Gedanken, die ich auf der Fahrt in die Praxis gemacht habe aus der Tastatur in den Arbeitsspeicher meines Laptops und von da in die ungeahnten Weiten eines weltweiten Netzes zu schicken.


Also: gehen wir mal davon aus, daß es im Carl-Auer-Verlag Menschen gibt, die die Beiträge in der Systemischen Kehrwoche gemäß der sinngemäßen Beschreibung eines ihrer Autoren, dem von mir geschätzten Philosophen Sloterdijk, "gemäß dem Auftrag einer konstruktivistischen Intelligenz von heute diese Beiträge kritisch überdenken und dann die dargestellten Gegenstände neu erfinden".

Dergestalt konfrontiert mit einer Realität, in der bestimmbare Spielregeln der Kommunikation mit den geäußerten Inhalten zu erkennen sein müßten, frage ich mich, wie unmittelbar diese Regeln als solche kommunizierbar sein müssen. Sicherlich wird es auch da so sein, daß wenn die Regel zu direkt jeweils „erklärt“ oder „gedeutet“ wird sie ihre Wirkung verlieren könnte.

Ich kann also nur mutmaßen, welche Wirkung dieses Forum haben soll oder welche Wirkung „man“ diesem Forum zugedacht hat oder aktuell zudenkt.


Diese Überlegungen eingeschlossen halte ich es zum gegenwärtigen Zeitpunkt naheliegender, daß die Autoren, die bereits jetzt im Forum „Systemische Kehrwoche“ sich geäußert haben, direkter miteinander kommunizieren, vielleicht sogar in diesem Forum. Direkter als dies bisher geschehen ist. Wahrscheinlich ist jeder froh, wenn er diese Kehr-Woche hinter sich gebracht hat und schaut dann vielleicht erst mal nicht mehr ins Forum, um bei sich einzukehren. Was mich selbst betrifft, habe ich die bisherigen Beiträge des Forums durchgeblättert, bevor ich selbst als Forum-Autor „dran“ war und bin dabei so verfahren wie wahrscheinlich die meisten Leser:

Es war für mich wie eine Meldung in der Tageszeitung: ich blättere, überfliege und was mich nicht interessiert wandert in den Papierkorb, die anderen Artikel werden archiviert oder zumindest noch eine bestimmte Zeit aufbewahrt, um nach dieser Zeit festzustellen, wie weitreichend die jeweilige Bedeutung des dargestellten Gegenstandes war oder noch ist. Dann wird später entsorgt. Ganz selten schreibe ich mal einen Leserbrief, wenn mir etwas wirklich unter die Haut geht oder ich selbst falsch dargestellt werde, zumindest nach meinem Empfinden. Scheinbar gibt es derlei Anlässe in diesem Forum nur sehr wenige, denn sonst gäbe es mehr Reaktionen der Leser. Spricht also für die Autoren, daß es "so wenig Resonanz" gibt. Ich erlebe dies als Auszeichnung! Oder haben sie einfach nur "keine Zeit", die vielen, die von unseren Beiträgen angesprochen oder zum Nachdenken angeregt werden?


Manchmal kommt mir auch der Gedanke, daß die Forst- und Papier-Industrie und die Zeitungs-Redaktionen ihre Leser eigentlich dafür bezahlen müssten, daß sie Abfall entsorgen. Sicherlich: es kann nicht jeden alles interessieren. Aber: ging es Ihnen nicht auch schon mal so. Dieses viele Papier jeden Tag! Warum können wir uns nicht (und dafür wäre ein solches Forum wie das vorliegende doch wirklich geeigneter) uns gegenseitig mehr verdeutlichen, welche Themen uns interessieren (das tun wir schon) und dann darüber hinaus in die Kommunikation eintreten, die wir eigentlich ersehnen (das tun wir noch zu wenig, nach meinem Bedürfnis, auch in diesem Forum). Ich weiß nicht, wie weit die Überlegungen der Verleger des Carl-Auer-Verlages in dieser Richtung gehen. Sollen daraus „nur“ Bücher entstehen oder wird es etwas lebendiger als tote Bäume, die zu Papier geworden sind, manchmal nach dem Motto „Schade für die Bäume“. Sämtliche Bücher im Carl-Auer-Verlag sind natürlich ausgenommen davon! Hm!


Was mich betrifft würde ich gerne unseren Wald, auch den im Internet (den elektronischen Müll) reduzieren und schließe deshalb heute mit zwei Zitaten mir lieb gewordener Autoren, die nicht dem systemischen Feld entstammen. Ich zitiere in der Reihenfolge, in der ich gelesen habe:


1.aus

Titel: Tötungen, Gewalt aus der Seele : Versuch über Ursprung und Geschichte des Bewusstseins / Wolfgang Giegerich

Verfasser: Giegerich, Wolfgang

Verleger: Frankfurt am Main ; Berlin ; Bern ; New York ; Paris ; Wien : Lang

Erscheinungsjahr: 1994

Umfang/Format: 206 S. ; 21 cm

Anmerkungen: Literaturverz. S. 203 - 206

ISBN: 3-631-46629-3

Einband/Preis: kart. : sfr 54.00

Schlagwörter: Gewalt ; Analytische Psychologie

9.3b; 5.4

Opfertod ; Mythos ; Archetypus

17.2; 3.1; 5.4

Sachgruppe: 11 Psychologie ; 10 Philosophie ; 13 Allgemeine und Vergleichende Religionswissenschaft, Nichtchristliche Religionen ; 25 Volkskunde, Völkerkunde:


S 181-182 "Insbesondere zwei Phänomene können als gegenständliche Darstellung davon gelten, daß der Übergang von der Gegenständlichkeit in die logische Form des Bewußtseins an sich vollzogen ist Der erwähnte Vorstoß des Menschen in den Weltraum ist das unbestechliche Zeichen darauf, daß der Aufblick zu einem »höheren Wesen« unmöglich geworden ist und das Bewußtsein sich jetzt selbst dasjenige logisch zu seinem Boden gemacht hat, was zuvor unerreichbar über ihm schwebendes Dach gewesen war. Der Ein-Gott wird nicht mehr angehimmelt, das Bewußtsein hat sich vielmehr logisch auf seine Höhe gebracht.1 Zum anderen sind: der Vorstoß zur tatsächlich nicht mehr dinglichen Software: die Durchsetzung der »Hardware« mehr und mehr mit Software; die Überführung des früher substantiell Genommenen in »Information«; der Übergang zur Betrachtung der Wirklichkeit mit den Augen von kybernetischer Systemtheorie und formaler Chaosforschung; die Verwandlung der Metaphysik in Sprachphilosophie (linguistic turn): sowie das Fortschreiten vom Tauschhandel mit Gegenständen über den Geldhandel zum total immateriellen, nur noch elektronisch als Datenübermittlung vor sich gehenden bargeldlosen Zahlungsverkehr das unmißverständliche Zeichen darauf, daß das Bewußtsein in einen Status eingetreten ist, wo es sich nicht länger mit Gegenständen draußen herumtreibt, sondern in dem, was es draußen betrachtet, sich selbst, seine eigene logische Form reflektiert.

Das Bewußtsein kann jetzt seinen Sinn nicht mehr außer sich im Opfer-handeln, nicht mehr im dinglichen Speer oder Korb, nicht mehr in himmlischen Göttern und auch nicht mehr in dem einzigen Gott haben. All diese Sinnträger sind verdampft. Das Bewußtsein ist jetzt selbst der Form gewordene Sinn, selbst der Sinnträger. Dies ist es, was »der Verlust der Unschuld« letztlich bedeutet. Es ist nicht mehr eingesponnen in eine sinnerfüllte Welt, in den selbstgesponnenen Schleier der Maya. Das Bewußtsein kann nicht mehr als selber unberührtes haben, was es selbst sein muß. Damit ist aber zugleich auch gesagt, daß die Menschen ihren Sinn verloren haben: Wenn der noch gegenständlich, als Gegenüber. vorgestellte höchste Gott ganz verdampft ist, wenn man nicht mehr zu dem erhabenen Einen und schon gar nicht mehr zu den vielen Himmlischen auf-blickt, sondern selber logisch in den Weltraum eingetreten ist, blickt man in eis-kalte Leere. Schon bevor die buchstäbliche Fahrt ins Weltall möglich war, fragte Nietzsche: »Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und immer mehr Nacht?«2 Die ganze Welt ist entgöttert und ordinair geworden. Max Weber sprach von der Entzauberung der Welt. Die Lehre von der Schöpfung ist der Wissenschaft von der Faktenaußenwelt, ist der Chaosforschung gewichen. Der Mensch steht der Welt ohne innere Verbindung gegenüber, weil sie ihm nichts mehr zu sagen und zu geben hat, so wenig eben wie das schon erwähnte Abc-Buch dem das Lesen Beherrschenden noch etwas zu sagen hat. Der Sinn kann auch nicht mehr erlebt werden, denn dann müßte noch etwas Gegenständliehes dasein; er kann nicht mehr erfüllen, denn dann wäre das Bewußtsein noch das selber leere (= jungfräulich unberührte) und den Sinn als es von außen beglückenden Inhalt in sich aufnehmende Gefäß.


1 Man wehrt m.E. diese Einsicht ab, wenn man dabei an eine wahnhafte Hybris, Anmaßung, Vermessenheit des Menschen denkt. Hier ist nichts wahnhaft wie es dies wäre, wenn der Mensch sich empirisch für Gott hielte. Daß das Bewußtsein sich logisch auf die Höhe des an den Himmel projizierten Bildes von Gott gebracht hat, ist ein tatsächlicher Vorgang, der einfach ins Bewußtsein aufzunehmen ist, ganz gleich ob wir ihn als gut oder schlecht bewerten. Jene Aussage ist kein Anspruch oder ideologisches Programm, sondern der schlichte Befund einer wirklich stattgehabten geschichtlichen Veränderung, so wie der Übergang von der Eiszeit zur Warmzeit ein Befund war, den man hinnehmen mußte und nach dem sich zu richten man gut getan hätte. Aber es ist ein logischer Vorgang in der Alchemie der Seele. Er bedeutet nur den Eintritt des Bewußtseins in einen höheren logischen Status und damit zugleich in einen bescheideneren, weniger pathetischen, menschlicheren Stil. keinesfalls aber die Erhöhung des empirischen Menschen durch sein angebliches Erreichthaben faktischer Göttlichkeit. Was auch immer für Status crreicht werden, der Mensch bleibt doch (mehr oder weniger) der, der er ist, Hier sieht man wieder, wir wichtig es ist, nicht im wahrnehmenden / vorstellenden Denken steckenzubleiben. "

Der Leser möge mir also mein Bedürfnis nach Kommunikation verzeihen.


2. aus:

Titel: Über die Verborgenheit der Gesundheit : Aufsätze und Vorträge / Hans-Georg Gadamer

Verfasser: Gadamer, Hans-Georg

Ausgabe: 3. Aufl.

Verleger: Frankfurt am Main : Suhrkamp

Erscheinungsjahr: 1994

Umfang/Format: 213 S. ; 19 cm

Gesamttitel: Bibliothek Suhrkamp ; Bd. 1135

ISBN: 3-518-22135-3

Einband/Preis: Pp. : DM 22.80

Schlagwörter: Medizin ; Philosophie ; Aufsatzsammlung

27.1a; 4.1; 4.5

Sachgruppe: 10 Philosophie ; 33 Medizin


S. 44 ff:

“Damit wird nicht der gutgläubigen Trennung von Information und praktisch-politisch beeinflußter Auffassung das Wort geredet. Der Informationsbegriff, den die Kybernetik entwickelt hat, führt vielmehr in eine eigenen Problematik, sobald es sich um das praktische Wissen des Menschen handelt. ... praktische Aufgabe, die richtige Information zu bekommen. Natürlich betreibt jede Maschine, die informationen speichert, dabei eine gewisse Auswahl, die exakt der Programmierung entspricht. Sie vermag daher Informationen, die ihr zuströmen, stets auch wieder auszuscheiden. Aber sie vergißt nichts. Ein ungeheurer Vorzug, wird man vielleicht meinen, weil man so oft Ursache hat, die Grenzen des menschlichen Gedächtnisses zu beklagen. Aber die Maschine, die nichts vergißt, kann sich damit auch nicht erinnern. Vergessen ist eben nicht Ausscheiden, und es ist auch nicht einfach Speicherung. Es ist eine Art von Latenz, die ihre eigene Präsenz festhält. Auf die Eigenheit dieser Präsenz kommt dabei alles an. Denn gewiß hat auch eine gespeicherte Information, die man aus der Maschine abrufen kann, eine Art Präsenz in der Latenz. Aber eben hier liegt der Unterschied. Die Maschine kann zwar den neurophysiologischen Tatbestand, den man >MnemeErinnerungpassivenEinfallerklärtkannKönnenvollständigenerinnerterinnertweiß<. Ob dies dem Benutzer hilfreich ist, in dem ihm neue Beobachtungen geschenkt werden, ist die Frage. Es wird solche Fälle geben. Aber es wird auch das Umgekehrte geben, daß man nachschlägt, während man lesen sollte.

... Spezialfall eines allgemeine Problems. Was ein Forscher in der Forschungspraxis aus Information zu machen versteht, in dem er auswählt, ausscheidet, vergißt, Einsichten reifen und altern läßt, das hat seine volle Entsprechung in der ganze Umfangsweite der menschlichen Praxis. .... Solche Verarbeitung wird aber schon immer im voraus geleistet sein, wo Information das praktische Bewußtsein des Menschen erreicht. ... praktisches Bewußtsein .... Auswahlverfahren ..., durch das eine Information vielsagend wird.”


Ich werde mich also in Geduld üben, warten und dann später nicht mehr erkennen, daß eine Wirkung, die mir widerfährt mit einem dieser Sätze zu tun hat, den sie gerade gelesen haben. Das ist gut so.


Ich wünsche Ihnen und uns eine gute Zeit.


Hans Baitinger