Empathie

Es geschieht ja nicht so häufig, dass internationale Zeitungen über Querelen in deutschen Forschungsinstituten schreiben. Das ist jedoch jetzt geschehen (z.B. gestern in der Washington Post). Die Erklärung dafür dürfte sein, dass man meint, einen Widerspruch zwischen den publizierten Erkenntnissen und der täglichen Praxis der Forscher entdeckt zu haben ("Erwischt!"):


Tania Singer ist eine Forscherin mit hoher internationaler Reputation. Sie leitet ein Max-Planck-Institut und ihr Forschungsthema ist Empathie. Nun haben sich etliche Mitarbeiter(innen) darüber beschwert, dass sie von Frau Singer nicht nur (vermeintlich) unempathisch behandelt worden seien, sondern (angeblich) ausgesprochen schlecht ...


Ich kenne weder Frau Singer noch irgendeine der Personen, die sich beklagen. Daher maße ich mir auch kein Urteil darüber an, ob diese Vorwürfe stimmen oder nicht. Was mich an der Angelegenheit interessiert, ist die Tatsache, wie hier Empathie konzeptualisiert wird. Denn es ist ja keineswegs gesagt, dass jemand, der empathisch ist, diese Fähigkeit dazu nutzen muss, um seinem Gegenüber etwas Gutes zu tun. Ganz im Gegenteil: Es bedarf einer gehörigen Empathie, um jemand anderen "ins Herz treffen" zu können. Man muss einfühlsam sein, um zu wissen, was Andere ärgert, schmerzt usw.


Wer sich nicht solidarisiert mit schwangeren Mitarbeiterinnen (wie im beklagten Fall) kann durchaus empathisch sein. Und wenn dies der Direktor oder die Direktorin eines Instituts ist, dann weiss er oder sie, gerade wenn er oder sie empathisch ist, dass diese Mitarbeiterinnen andere Prioritäten setzt, als es den Zielen des Instituts (zumindest kurzfristig) entspricht. Aus der Rolle des Leiters betrachtet, erscheint das erst mal ärgerlich - ein Mangel der Empathie des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin. Aus der Sicht der Betroffenen, die ihrer Familie eine höhere Priorität zubilligen als ihrer Arbeit, schlicht und einfach sinnvoll. Denn in ihrer Familie sind sie - zumindst in der Beziehung zu ihren Kindern - nicht austauschbar, in ihrem Institut hingegen sehr wohl...


Mir scheint, wenn über Empathie geredet wird, dann wird erwartet, dass damit ein bestimmtes, positiv bewertetes Verhalten erwartet wird. Ich denke, dass ist problematisch. Die Fähigkeit zur Empathie ist den meisten Menschen (mehr oder weniger, da gibt es sicher individuelle Unterschiede) zu eigen. Nett zu anderen Leuten zu sein, hat damit zwar wahrscheinlich etwas zu tun, ist aber nicht dasselbe...


https://www.washingtonpost.com/news/speaking-of-science/wp/2018/08/12/shes-world-renowned-for-studying-empathy-her-colleagues-say-shes-an-intimidating-bully/?utm_term=.d9e83d9a10c6