Enke

Es ist ja faszinierend zu beobachten, wie auf den Tod von Herrn Enke öffentlich reagiert wird. Wie lässt sich erklären, dass sich 35 000 Menschen auf einem Trauermarsch durch Hannover versammeln? Er war ein guter Torwart - aber so gut auch wieder nicht. Nationaltorwart immerhin, wenn auch nur mit sieben Auftritten. Nicht wirklich eine Figur, mit der sich eine breite Öffentlichkeit identifiziert hatte. Ein kleinerer Held, eher ein regionaler. Doch auch die internationalen Zeitungen schreiben. Sehr merkwürdig.


Als Erfinder des Depressionsbarometers bin ich von Journalisten um eine Stellungnahme gebeten worden, habe das aber abgelehnt. Natürlich hätte ich zu Depression im Allgemeinen was sagen können, aber da gibt es Kollegen, die das besser können. Was mich hier fesselt, ist nicht der Tod des Spielers - seiner Familie gilt mein Mitgefühl, und das nicht mehr oder weniger als es allen Angehörigen von Selbstmördern gilt - denn der Suizid ist ja nicht nur ein Ausdruck der Selbstaggression, sondern auch ein zutiefst aggressiver Akt allen gegenüber, die sich in einer engen persönlichen Beziehung zu dem Betreffenden befinden. Deshalb gilt mein Mitgefühl besonders den armen Lokomotivführern, die von Menschen, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben, in eine unangemessen enge Beziehung gezwungen werden, so dass sie daraus oft nicht mehr raus kommen (20% müssen ihren Beruf aufgeben). Mit welchem Recht massen sich solche idiotischen Selbstmörder wie Herr Enke an, sich so in das Leben anderer einzumischen. Wie borniert und selbstbezogen muss man da sein?


Trotzdem: Erschütterung aller Orten um den Tod eines Fussballers. Sicher: Es ist eine grandiose Verschwendung, solch ein Tod. Aber das gilt für jeden Suizid. Irgendwas ist im Fall Enke aber besonders. Um Herrn Merkle hat keiner öffentlich getrauert, zumindest nicht in diesem Masse. Obwohl er sich auch durch einen Regionalexpress exekutieren ließ, und es für den Lokführer kaum einen Unterschied machen dürfte, ob Enke oder Merkle ihnen das antun...


Meine Hypothese ist, dass diese Trauermärsche eigentlich politische Demonstrationen gegen das so viel gepriesene Leistungsprinzip darstellen. Da ist einer öffentlich sein Berufsleben lang auf seine Leistung hin beobachtet worden, bejubelt und ausgepfiffen worden, ohne dass sich irgendwer die Frage gestellt hat, wie es ihm mit diesem Druck eigentlich geht. Seine professionelle Existenzberechtigung war an seine Leistung gebunden. Wer nicht "performt", wird ausgewechselt und nicht mehr aufgestellt. Gefordert ist der Auftritt, die Darstellung von Leistung. Der Wert des Menschen wird daran gemessen, wie er diese Auftritte hin bekommt. Das ist aber nicht nur im Profisport der Fall, sondern auch sonst. Wo Geld (siehe Wirtschaftstheorie) als Kommunikationsmedium die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse leitet, wird immer von Beziehungen abstrahiert. Und wer Beziehungen an die erste Stelle setzt, hat wenig Chancen zu "performen" (42% aller allein erziehenden Eltern sind Hartz IV-Empfänger).


Irgendwas stimmt da zur Zeit was nicht. Und der tote Torwart symbolisiert das alles offenbar. Man demonstriert nicht wegen eines Problems mit den Transmittern.