Koffer

Wo wir gerade von Globalisierung reden: Ich sitze im Moment im tiefen Wald in Kanada, an einem relativ einsamen See – aber mit Internet-Anschluss und Satellitenfernsehen (um alle Kriege in Echtzeit verfolgen zu können). Raum und Zeit sind aufgrund der Reisemöglichkeiten und der technischen Kommunikationsmittel ja wunderbar relativiert.


Das führt dann zu so merkwürdigen Problemen, wie ich sie nach dem Flug hierher erleben konnte. In Heathrow (vor dem dem „Alleged Terrorist Plot“) waren meine Koffer nicht mitgekommen. In Kanada gelandet, hatte der zuständige Air Canada-Angestellte auf seinem Computer schon eine Meldung, sie würden am nächsten Tag mit demselben Flieger nachkommen. Er war nicht serviceorientiert, wie es in der Neuen Welt angeblich alle sind, sondern eher unfreundlich – er schien mit übel zu nehmen, dass ich die Koffer nicht mitgebracht hatte.


Ich fragte, was wir denn nun tun sollten, ohne unser Gepäck, zumal wir noch 300 km mit dem Auto fahren müssten. Er nahm unsere Adresse auf. Und wie es denn mit Kleidung oder Ähnlichem sei, angesichts der Tatsache, dass wir uns gelegentlich die Zähne putzen. Er verschwand in einem Hinterraum und brachte zwei Air Canada-Necessaires mit Zahnbürste und Seife etc. Und Kleidung? Unterwäsche? Er gab uns ein Merkblatt, auf dem eine Adresse stand, an die wir unsere Rechnung und eine ausführliche schriftliche Begründung schicken sollten, für das, was wir kaufen. Jeder könne für 50 US$ einkaufen. Außerdem könnten wir uns telefonisch und am Internet unter der angegebenen Telefonnummer bzw. Webadresse erkundigen, wo unser Koffer gerade sind.


Am selben Tag, 300 km vom Flughafen entfernt, suche ich die „Bitte melde Dich!“-Seite für vermisste Koffer der Air Canada auf. Meine Adresse ist falsch eingegeben, die Telefonnummer auch. Unser Koffer, sagt die Site, ist gefunden und wird verschickt. Ich rufe die angegebene Nummer an: Eine freundliche Dame fragt die Daten ab, gibt sie offenbar in denselben Computer ein wie ich, und erteilt mir die Auskunft, die ich schon hatte. Ich gebe mich nicht zufrieden, frage nach. Sie sagt, ich solle einen Moment warten, Musik, sie telefoniert mit dem Flughafen. Er sei im Flugzeug, werde am Abend ankommen. Außerdem ist sie bereit, meine Daten (Adresse und Telefonnummer zu ändern). Ich frage noch, wo ich die Rechnungen für meine Wäsche schicken sollte. Sie sagt, ihr Computer sage ihr, ich sei nicht berechtigt dazu, Geld im Namen von Air Canada für so etwas auszugeben. Der Mensch am Flughafen habe das aber anders erzählt. Gut, dann ändere ich das im Computer. Wir verabschieden uns, ich checke die Website, eine andere falsche Adresse. Was vorher richtig war (Postleitzahl) ist jetzt falsch. Der Name des Ortes ist auch falsch geschrieben.


Am nächsten Tag: Der Computer sagt mir, der Koffer sei angekommen. Telefonische Anfrage: Eine andere freundliche Dame recherchiert telefonisch, wo er denn sei. Er sei noch am Flughafen. Ich frage sie, wo in Indien sie denn gerade sei: In der Nähe von Bombay. Ich bitte sie, die Postleitzahl zu korrigieren. Es ist offensichtlich, dass sie nicht die geringste Ahnung hat, wo der Ort liegen könnte, über den wir reden. Auch das Prinzip kanadischer Postleitzahlen ist ihr nicht vertraut. Aber sie ist freundlich und zugewandt.


An nächsten Tag unveränderte Datenlage. Anruf in Indien. Ein freundlicher Herr. Er ruft am Flughafen an und teilt mir mit, der Koffer sei verschickt worden. Ich erkundige mich nach dem Wetter in Bombay. Wir unterhalten uns über die Entwicklung der Stadt in den letzten Jahren. Amazing. Wir vereinbaren, dass er sich weiter erkundigen wird, wo der Koffer ist und mich zurückruft. Das tut er, aber er kann mir auch nur sagen, dass der Koffer schon abgeschickt worden sei. Ich frage noch nach der Telefonnummer des Flughafens bzw. der dort zuständigen Leute. Er habe nur eine Direktleitung und könne sie mir deshalb nicht geben.


Am nächsten Tag rufe ich den Shuttle-Service an, der (nachdem alle öffentlichen Verkehrsmittel in dieser Gegend zunächst privatisiert und dann eingestellt worden sind) die einzige Möglichkeit darstellt, von und zum Flughafen zu kommen, wenn man kein eigenes Auto hat. Meine Vermutung ist, dass er den Auftrag bekommen hat, die Koffer zu transportieren. Wieder ein freundlicher Herr: Ja, sie transportieren häufig verspätetes Gepäck in meine Gegend... Aber gestern oder vorgestern... da war nichts dabei. Ich bitte ihn um die Telefonnummer des zuständigen Herrn am Flughafen. Er will sie mir nicht geben. Ich sage, ich würde sie brauchen, da ich dem zuständigen Menschen gerne etwas Böses sagen würde. Er weigert sich weiter, bietet aber an, anzurufen und sich zu erkundigen. Ich gebe mich widerwillig zufrieden. Fünf Minuten später ruft der zuständige Mensch von Air Canada an und teilt mir mit, meine Koffer seien im nächst größeren Ort (50 km weit weg) bei der Irving-Tankstelle.


Ich mache mich auf den Weg. Bei der Tankstelle weiß keiner Bescheid, aber man führt mich bereitwillig in den Lagerraum, wo es zur tränenreichen Wiedervereinigung der so lange Getrennten kommt. Ich bin wieder Herr meiner – unversehrten – Koffer.


Wieder zu Hause klingelt das Telefon: mein indischer Freund ruft an, ob ich inzwischen meine Koffer wieder habe...! Was hätte er wohl gemacht, wenn ich nein gesagt hätte? Er kenn die Irving-Tankstelle bestimmt nicht. Und was wäre aus meinen Koffern geworden, wenn ich nicht angedroht hätte, den Mann am Flughafen zu verhauen...?