Kubizek

In meinem Bücherregal gibt es etwa zwei laufende Meter an Hitler-Literatur. Und ich habe diverse Hitler-Biografien gelesen: Fest, Kershaw, Bullok, Maser, Stierlin... und trotzdem ist mir die Person Adolf Hitler bislang nicht greifbar geworden.


Jetzt ist eine neue Biografie erschienen (von Volker Ullrich), und ich habe begonnen auch sie zu lesen. Aber nach ca. 100 Seiten habe ich wieder aufgehört, um ein ganz anderes Buch zu lesen, das in allen anderen Biografien auch erwähnt wurde: Die Erinnerungen des Jugendfreundes Hitlers August Kubizek.


Das Leben der beiden war, als sie 15 bis 19 Jahre alt waren, eng verknüpft. Und erst jetzt habe ich eine Idee, wie Hitler getickt hat, ja, ich sehe ihn plastisch und greifbar als Mensch vor mir, wie ich auch andere kennen gelernt habe. Nicht als Monster, nicht als Dämon, sondern als jungen Mann, ja, pubertierenden Jüngling, der offensichtlich nicht mit seiner Sexualität zurecht kommt, nicht mit den Frauen, der ein klares Schwarz-weiss-Weltbild hat, über keinerlei Ambiguitätstoleranz verfügt, affektiv entgleist, Anfälle narzisstischer Wut zeigt. das heißt, so würde man das heute wahrscheinlich diagnostizieren, eine "narzisstische Störung" gehörigen Ausmasses hatte und seinen Freund Kubizek als Selbst-Objekt nutzt (so wie er später Deutschland benutzt hat); und einen Freund, der sich, wenn auch immer wieder ambivalent, in diese komplementäre, aber auch für ihn wertvolle Funktion der Erweiterung von Hitlers Selbst fügte, und ihn in seinen Größenphantasien nicht wirklich in Frage stellte.


Junge Menschen, die so gestrickt sind wie Adolf Hitler es war, gibt es ja gar nicht so selten. Der Unterschied mag sein, dass sie mit der Zeit ihren Größenwahn relativieren oder auch domestieren, weil sie an der sozialen Realität "anstoßen", lernen und sich als Persönlichkeiten weiter entwickeln. Das scheint bei Hitler nicht geschehen zu sein.


Dieses Buch hat meine Vorstellungen davon, welche Rolle Hitler als Person für die Entwicklung Nazi-Deutschlands gespielt hat, wieder einmal radikal auf den Kopf gestellt. Denn offenbar hat sich Hitler bzw. sein Denken und Fühlen in den Strukturen seit seiner Jugend nur wenig verändert. Die totalitäre Radikalität, die schrecklich Konsequenz, alles, was Nazi-Deutschland so unerträglich gemacht hat, sind beim jungen Hitler schon zu beobachten.


Wenn man die Frage nach der "härteren Realität" von psychischen vs. sozialen Systemen stellt (d.h. die Frage, wer sich wem mehr anpasst), so hat sich Deutschland offenbar Hitler weit mehr angepasst als umgekehrt Hitler bzw. sein psychisches System an Deutschland (bzw. es hat sich nur einem Teil der gespaltenen kulturellen Muster angepasst - was an den gesellschaftlichen Entwicklungen: Krieg etc., gelegen haben mag)...


Es wurde alles auf seine Person - den Führer - als Entscheidungsprämisse zugeschnitten. Das hat natürlich zur Voraussetzung gehabt, dass diese Person an die Spitze einer Hierarchie gelangt ist (formale Struktur als Entscheidungsprämisse) und die "braven" Deutschen sehr empfänglich dafür waren, sich in autoritäre Strukturen zu fügen.


Auf jeden Fall scheint es Hitler gelungen zu sein, ganz Deutschland nach seinen pubertären Vorstellungen zu gestalten... Natürlich ging das nur, weil die Deutschen es zugelassen bzw. begeistert mitgemacht haben.