Ratzinger

Gestern stand im Corriere della Sera ein langer Artikel über eine Botschaft, die der emeritierte Papst Benedikt in einem obskuren deutschen Bistumsblatt verkündet hat:

Die sexuellen Verirrungen des Klerus der katholischen Kirche seien letztlich auf durch "die 68er" verursachte gesellschaftliche Wandlungen zurückzuführen... (meine Zusammenfassung).


Es kann nicht bestritten werden, dass mit diesem "magischen" Datum ein Wandel der Sexualmoral verbunden werden kann. Aber, dass der Aufstand der Studenten gegen den "Muff von tausend Jahren unter den Talaren" dazu geführt haben soll, dass katholische Priester Chorknaben die Hose runter ziehen, scheint mir doch ziemlich albern. Denn all dies gab es ja schon Jahrhunderte vorher und war eine Form der Herrschaftsausübung des Klerus, der gerade zu den Phänomenen gehört, gegen die "die 68er" auf die Straße gegangen sind.


Worum geht es dem Ex-Papst also? Ich weiß es natürlich nicht, da sogar seine schwarze (soll heißen: katholische) Seele von außen nicht durchschaubar ist. Aber wenn ich mich an meine katholische Sozialisation erinnere, so war deren zentrales Merkmal eine die Freiheit des Einzelnen extrem einengende Normativität, wie ich sie später nur noch in Familien mit schwer psychosomatisch erkrankten Mitgliedern erlebt habe. Mag sein, dass ich hier dem Herrn Ratzinger Unrecht tue, aber ich vermute mal, dass es ihm um die nostalgische Erinnerung an die verlorene Macht der Kirche geht, die durch Setzung von Normen ihre Gläubigen über Jahrhunderte unter ihrer Knute halten konnte.


Dass die Kirche auch vor 1968 nicht sexuell blütenrein und unschuldig war, dürfte Josef Ratzinger nicht ganz unbekannt sein, da sein Bruder - ebenfalls katholischer Priester - lange Zeit für die "Regensburger Domspatzen" verantwortlich war, einen Knabenchor, der seinen Namen nicht ohne Grund Vögeln zu verdanken hat und durch einen Mißbrauchsskandal erschüttert wurde.