Sicherheitsabsorption

Eine der Funktionen von Entscheidungen, so lehrt die Theorie, ist es, Unsicherheit zu beseitigen (=zu absorbieren). Man weiss zwar nicht, was die Zukunft bringt, aber, wenn man heute Entscheidungen trifft, die erst morgen zeigen werden, ob sie den damit verbundenen Zielen und Wünschen gerecht werden, so können sie trotzdem heute für alle, die sich an diesen Entscheidungen orientierten, vorübergehend Sicherheit geben. Man tut so, als ob man wüsste, dass die Zukunft, für die man sich (implizit) entschieden hat, auch tatsächlich stattfinden würde.


Mir sind in letzter Zeit einige Zweifel daran gekommen, ob die Funktion von Entscheidungen nur (oder in erster Linie) Unsicherheitsabsorption ist.


Ausgelöst wurde dieser Zweifel durch eine Geschichte, die mir erzählt wurde. Ich habe vor gefühlten 100 Jahren (es waren laut Kalender nur 40) einen Unternehmer kennen gelernt. Er und sein Unternehmen war sehr erfolgreich, der Familie ging es wirtschaftlich sehr gut, keines der Kinder brauchte irgendwelche Zukunftssorgen zu haben... Vor zwei Wochen habe ich jemanden aus der Stadt, in der Unternehmer und Unternehmen ihr Zuhause hatten, getroffen. Ich habe nach beiden gefragt: Dem Unternehmer geht es gut, dem Unternehmen auch, aber es ist verkauft, obwohl es zwei Söhne gab, die beide hätten Nachfolger des Vaters werden können.


Das konnten sie aber nicht, und das Unternehmen musste verkauft werden, weil beide Söhne tot sind. Der eine ist beim Gleitschirmfliegen abgestürzt, der andere bei einem Autorennen ums Leben gekommen.


Da waren also zwei junge Männer, deren Zukunft - zumindest wirtschaftlich - ziemlich sicher war. Sie wählten Beschäftigungen, die mit einem erheblichen Risiko verbunden waren. Beide haben sich selbst von der Sicherheit, die ihre Herkunft gewährleistete, befreit, indem sie ihr Leben aufs Spiel setzten.


Sicherheitsabsorption, um einen Begriff zu prägen, der analog zu dem in der Entscheidung-Theorie etablierten geformt ist.


Wahrscheinlich ist das Wahlverhalten der Bürger in den westlichen Ländern ja ähnlich zu erklären. Noch nie in der Geschichte ging es z.B. der deutschen Bevölkerung im Blick auf die aktuellen Lebensverhältnisse besser. Keinem droht zu verhungern. Niemand muss wirklich unter Brücken schlafen. Fast jeder hat einen Arbeitsplatz, der lausig bezahlt sein mag, aber im Vergleich zu den Lebensbedingungen in den meisten Gegenden der Welt immer noch ein komfortables Leben ermöglicht usw.


Warum wird ein Freak wie Donald Trump gewählt, von dem keiner weiss, was er mit der Macht, die ihm als Präsident gegeben wird, anstellen wird (inzwischen ahnt man es)?, warum stimmt man für den Brexit, obwohl man nicht weiss, was die Folgen sein werden (nix als Hoffnungen bzw. falsche Versprechungen)?, warum wird in Italien ein Juraprofessor ohne alle Regierungserfahrung zum Ministerpräsidenten ernannt (von Politikern, die ebenfalls keine Kompetenzen vorweisen können)?, warum wählt jemand, der bei Sinnen ist, die AfD... usw.


Sicherheitsabsorption. Sehnsucht nach dem Thrill? Langeweile, angesichts der erlebten Berechenbareit der Welt. Nebenbei bemerkt: Wenn man ein wenig Kriegstheorie betreibt (siehe "Tödliche Konflikte"), dann wird deutlich, dass dies der Reiz von Kriegen ist, der Menschen jubeln lässt, wenn es (endlich) wieder mal losgeht.


Vielleicht sollten wir doch lieber auf eine Wirtschaftskrise, Vulkanausbrüche oder einen Metoriteneinschlag hoffen...