Tom Kummer interviewt Carl Auer

Mein Charakter gleicht manchmal einer ganz miesen

Gegend...


Tom Kummer im Gespräch mit Carl Auer


Seine Londoner Souterrainwohnung ist durch Scherengitter vor den Fenstern gesichert. Er öffnet die 12 Schlösser und Riegel der Haustür, nachdem er sich durch eines der Gitter von

der Identität des Besuchers hat überzeugen lassen.

Sein Gesicht erzählt von durchwachten Nächten. Vier tiefe Falten beherrschen die Stirn – man würde nur drei erwarten. Besuch erduldet er mit abseitigem Humor und einem sein

Alter kontrastierenden kindischen Kichern. Er raucht Kette, und während er spricht, schwenkt er hingebungsvoll das Eis im Whiskeyglas. Immer noch Jim Beam, das nennt er

Treue.

Wer ist dieser Mann? Das verkannteste Genie der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, ein Großmaul, ein Frauenheld, ein Vamp oder eine Frau auf der Suche nach sich selbst?


Dr. Auer, vor was fürchten Sie sich eigentlich?


Vor Idioten. Im vergangenen Jahr habe ich sieben Eindringlinge aus meiner Wohnung schaffen und die Fenster vergittern müssen.


Sie sind also sozusagen Ihr eigener Sheriff.


Ich weiß, wie man mit Idioten umgeht.


Sie haben die Angewohnheit, brennende Zigaretten in Ihrer Hand auszudrücken. Warum tun sie das?


Ich bin Existentialist, manchmal langweilt mich das Leben.


Wenn Sie von Langeweile sprechen, meinen sie dann die „Heilige Langeweile des genuinen Künstlers“?


Sie haben es erfaßt. Langeweile fördert meine Schaffenskraft. Es gibt nach meiner Erkenntnis drei Arten von Langeweile: die überdrüssige Langeweile des Erwerbsspießers, die an nichts verzweifelt, die existentielle Langeweile, die am Nichts verzweifelt, und die schöpferische Langeweile, die manchmal aus dem Nichts, manchmal aber auch aus nichts Kunst entstehen läßt. Den beiden letzteren fühle ich mich verbunden wie mit sonst nichts.


Ihre Attitüden von heute erinnern aber weiterhin an Zeiten, als ein richtiger Mann noch saufen, rauchen und sich prügeln mußte. Sie trinken noch immer Unmengen Jim Beam, bis sie öffentlich in Bierflaschen pinkeln, weil sie in Ihrem Alter den Weg zur Toilette nicht mehr schaffen. Verstehen Sie dieses Benehmen weiterhin als Rebellion, oder haben Sie ganz einfach den Anschluss an die Gegenwart verloren.


Ich bin überzeugt, daß die beste Zeit dieses Jahrhunderts die fünfziger Jahre waren. Aus ihnen ziehe ich meine Kraft, meine Inspiration. Die meisten systemischen Denkansätze

stammen aus dieser Zeit. Die Zeit hat wohl eher den Anschluss an mich verloren.


Sie meinen die Macy-Konferenzen?


Zum Beispiel. Diese Stimmung zwischen Todessehnsucht und Verachtung für jede Orthodoxie, vor allem die der einzelnen Fachidiotien. Das gibt es heute nicht mehr. Das Paradox war, dass man die Todessehnsucht brauchte, um ohne Angst vor sozialer

Vernichtung lebendig sein zu können, d.h. frei, und gegen die toten Wahrheiten der Mehrheit denken und kreativ sein zu können.


Dr. Auer, eigentlich verkörpern Sie ja den materialisierten Zeitgeist annähernd perfekt: Die Wirklichkeit verliert sich – auch und gerade durch Ihr Werk beflügelt – in der Simulation, und der Körperkult ist die konsequenteste Reaktion darauf. Haben Sie darin den Sinn des Lebens gefunden?


Ich kapiere zwar nicht genau, wovon sie sprechen, aber eines weiß ich: Ich muss nicht unbedingt nach einem Sinn des Lebens suchen, um glücklich zu sein. Mit meinen bald 100 Jahren bin natürlich so etwas wie ein Symbol dafür geworden, dass man mit zunehmendem Alter nicht unbedingt verblöden muss. Entscheidend für mein Wohlbefinden sind aktives Entspannen und mentales Training. Shiatsu und Yoga. Akupressur löst Verspannungen und

Schmerzen und stärkt die körpereigenen Abwehrstoffe. In den letzten Monaten habe ich in meinem Körper unzählige Energiepunkte entdeckt. Das ist wunderbar. Werden diese

Punkte gedrückt oder erwärmt, dann stimuliere ich die dazugehörigen Organe. Beim Yoga habe ich eine gezielte Atemtechnik entwickelt, damit Seele und Körper miteinander

harmonisieren. Man muss sich nur selbst finden, dann fühlt man sich fit.


Im Widerspruch zu diesem Körperbewußtsein steht Ihr Whiskeykonsum. Und als Sie vor Jahren mittellos in New York City auftauchten, haben Ihnen Heidelberger Kollegen einen Job an einem familientherapeutischen Institut verschafft. Man hat aber aus dieser Zeit nichts über Ihre Arbeit erfahren. Außer Kalender- und manchmal gar nicht so blöden Postkartensprüchen haben sie aber kreativ nicht viel Neues vorzuweisen.


Soll ich deswegen auf die Knie fallen? Und was haben Sie gegen coole Postkartensprüche? Mit dem Alter kommt die Fähigkeit zur Prägnanz, und außerdem ist manch Großmaul in meinem Alter schon geraume Zeit tot.


Was bedeutet für Sie eigentlich „cool“?


„Cool“ war und ist die Kunst der Widersprüche. Es kann bedeuten, alt, erfolgreich und gleichzeitig rebellisch zu sein. Es kann bedeuten, daß man sich selbst für extrem künstlich und konstruiert hält und diese Fiktionalität gnadenlos auf die Außenwelt projiziert. Dabei ist man ständig erregt und gleichzeitig respektlos unterkühlt; diszipliniert und chaotisch, hellwach und zehntausend Lichtjahre entfernt. Man verschleudert extreme Mengen an Energie. Aber Coolness fordert ihren Preis. Cool bedeutet einen stummen und gleichzeitig entfesselten Sinn fürs Dramatische. Es steht für gnadenlose Aggressivität und einen Charme, der Katzen zum Jaulen bringt.


 


Waren Sie vor Ihrem Abtauchen beleidigt, daß man Ihnen keinen größeren Respekt für Ihre Leistungen entgegenbrachte?


Ach was! Ich steckte in einer Krise, wie die ganze westliche Welt in dieser Zeit, die vollgestopft ist mit Außenseitern, mit Ignoranz, Haß und Ressentiments. Ich habe mich in meinem Glamour, meinem akuten Narzißmus und im amerikanischen Traum verrannt. Und

statt zu entspannen, habe ich mich öffentlich für tot erklärt und bin einfach untergetaucht. Es gab da eine innere Stimme in mir, die mir sagte, dass es nichts Schlimmeres auf der Welt gibt, als nicht der zu sein, der man ist. Unter diese Position mischte sich dann noch eine gute Portion Egoismus, das streite ich gar nicht ab.


Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der mit Hunden so leidenschaftlich spielt wie Sie. Und dabei flüstern Sie Ihren Hunden immer wieder ganz zart irgendwelche Worte ins Ohr.


Das hat mir meine Mutter beigebracht. Du mußt deinen Hunden erzählen, worum es geht.


Sie erzählen Ihren Hunden Geschichten? Um was geht’s denn da?


Nicht nur Hunden. Der Inhalt ist nicht wichtig.


Dann ist also alles, was Sie mit Ihrer Stimme verbreiten, bloß Dichtung?


Was denn sonst?! Mich interessiert nicht die Wahrheit, ich inszeniere meine Wahrheit.


Was bewunderten Sie an Ihrer Mutter?


Alles. Meine Mutter wußte alles über Treue, Ehrlichkeit und Respekt. Als junger Typ hatte ich mal eine Schußwunde, und meine Mutter hat mich gepflegt. Sie verbrannte die alten Verbände und sagte: „Das Feuer ist eine reinigende Macht.“ Meine Mutter hatte für alle

Schicksalschläge die passende Wahrheit parat.


Welche Kindheitserlebnisse haben Sie am stärksten geprägt?


Schwierige Frage, aber interessant. Als junges Mädchen in Wien war der Kontakt mit der Freud-Familie wohl entscheidend. Da saß ich und habe gelauscht. Aber das hat mein Sohn Edgar ja ausführlich in der Öffentlichkeit breit getreten. Ich will darüber nicht weiter sprechen. Und wenn Ihnen das nicht paßt, dann können sie mich mal.


Können Sie uns erklären, was Ihre wahre Qualität ist?


Beim Rauchen kann ich mindestens sieben Ringe blasen, das schafft selbst Lucky Luke nicht.


Was ist Ihre größte Leistung?


Was ich sage, hat Bedeutung, und die muß man sich erschnüffeln.


Ihre wahre Biographie zu erkennen ist für Außenstehende ziemlich unmöglich. Das Mysteriöse gehört zu Ihnen wie dieses nach Lavendel riechende Rasierwasser, das Sie heute tragen ...


Hat mir ein Freund aus Äthiopien mitgebracht. Vertreibt die Fliegen.


Hier sind keine Fliegen.


Es wirkt.


Was beängstigt Carl Auer?


Mein Charakter gleicht manchmal einer ganz miesen Gegend in Los Angeles. Und die Vernunft sagt mir dann, ich solle dort nicht allein hingehen.


(Dieses Interview wurde Ende der 90er Jahre geführt und damals auf der Website des Carl Auer Verlags publiziert. Ich stelle es hier wieder zur Verfügung aus Anlass eines Artikels von Bernhard Pörksen, der in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" und der heutigen Ausgabe des "Tagesspiegels" abgedruckt ist.)


Quelle: Tom Kummer: Gegen die öde, blöde Welt der Fakten | ZEIT ONLINE