"Wir sind das Volk"

Erst beim Schreiben meines Populismus-Buches wurde mir klar, was für ene problematische Formel (siehe oben) den Beginn der deutschen Wiedervereinigung gekennzeichnet hat.


Denn, wo immer "das Volk" als geschlossene Einheit betrachtet wird und jemand für sich in Anspruch nimmt, für diese Einheit (="das Volk") zu sprechen, ist die Demokratie in Gefahr. Es wird nämlich, wie bei jeder Unterscheidung, eine Innen-außen-Differenz und damit eine potenzielle Konfliktlinie etabliert: "Wir" (das Volk) vs. "die Anderen" (die nicht zum Volk gehören).


In der Politik geht es immer um Konflikte und ihre Entscheidung. Das sind aber in der Regel Konflikte innerhalb der Bevölkerung bzw. zwischen unterschiedlichen Interessengruppen. Und die repräsentative Demokratie hat sich als ziemlich intelligentes Verfahren zur Entscheidung und Lösung derartiger Konflikte erwiesen. Es wird um parlamentarische Mehrheiten gerungen. Und es werden Regierungen gewählt und abgewählt, die den unterschiedlichen Interessen bzw. den zur Wahl stehenden Seiten der Konflikte unterschiedliche Priorität zuweisen. Diese Bewertung kann sich ändern, und deswegen werden auch Regierungen ohne Blutvergiessen gewechselt werden...


Wo immer aber beansprucht wird für "das Volk" zu sprechen, werden bestimmte Interessengruppen innerhalb der Bevölkerung, die nicht den Meinungen derjenigen zustimmen, die beanspruchen für "das Volk" zu sprechen, stillschweigend zu Nicht-Mitgliedern des Volks umdefiniert, d.h. zu internen Fremden oder gar Feinden, deren Interessen illegitim sind...


Der einzige Ort, an dem man die Berufung auf "das Volk" eventuell gerade noch akzeptieren kann, ist m.E. das Parlament. Wenn auf dem Reichstag steht: "Dem deutschen Volk", so zeigt das (hoffe ich), dass wir den unterschiedlichen Strebungen und Zielen einer hoch differenzierten Bevölkerung nur durch eine zivilisierte Konfliktlösung - d.h. parlamentarische Entscheidungsfindung - gerecht werden können und die vermeintliche Einheit "das Volk" intern vielfältig strukturiert ist und Konflikte unvermeidlich sind.