Steinbrück, der Kandidat, weint

Der SPD-Konvent, am Wochenende, sollte die Kräfteverhältnisse in der SPD wieder zurechtrücken. Der Konvent sollte jedem, der noch an der SPD zweifelt,  die Geschlossenheit der Partei überzeugend vor Augen führen. Der Konvent sollte es endlich wuppen.


Und doch ist es wohl ein ganz kleiner Moment, in dem Steinbrück, der Kandidat, zu Boden blickte und mit den Tränen rang, der das Besondere ausmacht. Dieser Moment ist, wenn ich mich recht erinnere, bisher einzigartig auf der öffentlichen politischen Bühne. Natürlich gab es Tränen der Rührung, Tränen des Zorns, Tränen der Trauer, Tränen des Abschieds, Tränen der Verzweiflung. Aber meines Wissens gab es noch nie Tränen einer solchen persönlichen emotionalen Erschütterung, bei einem Menschen, der medial unisono als harter, unemotionaler und arroganter Knochen beschrieben wird.


Die Eheleute Steinbrück plaudern zusammen mit der Moderatorin Böttinger über Politik, die Ehe, die Familie und die Sicht auf die Welt. Man könnte sagen, eine durch “home stories” angereicherte, inszenierte Wohlfühlparty. Wenn da nicht diese emotionale Erschütterung gewesen wäre.


Steinbrück, der Kandidat, an dem die Medien kein gutes Haar lassen, senkt seinen Kopf, während seine Frau, so wie eine liebende Ehefrau es oftmals tut, wissend und liebevoll über ihn redet, so als würde er in sich versunken sein. Unmerklich beginnen die Finger seiner linken Hand leicht zu zittern, dann die ganze Hand. Der Fuß wippt erregt, auch wenn dies wahrscheinlich nur wenige bemerkt haben. Steinbrück hält seinen Kopf zur Brust gedrückt. Er atmet noch weniger, noch flacher. Sein Mund ist noch mehr als sonst zusammengepresst, die Lippen kaum sichtbar. Hand und Finger der linken Hand zittern noch mehr. Beinah automatisch, unkontrolliert.  Man kann den Eindruck bekommen, dass dieser Mann, der so unnahbar und überlegen souverän wirkt, sich nicht mehr kontrollieren kann, sich nicht mehr selbst im Griff hat.


Wegen der zurückgehaltenen, extrem flachen Atmung vermute ich, dass Steinbrück einen nicht gerade unerheblichen Druck auf der Brust gespürt hat. Einen Druck,  wenn andere einen solchen Druck erleben würden, ihn als Schmerz erleben würden.


Einen Druck, der auch  als ein untauglicher Versuch angesehen werden kann, sich und die Tränen der tiefen Rührung und Erschütterung vielleicht doch noch kontrollieren zu können. Um dann wieder, wie man es von einem Kandidaten erwartet, souverän zu reagieren. Immer mit einem „bösen“ Spruch auf den Lippen. Das kennt man doch von Steinbrück. Und das erwartet man auch in einer solchen Situation von ihm. – Aber weit gefehlt.


Steinbrück will sich keine emotionale “Blöße” geben. Von seinem Verhaltensmuster kann er es nicht, ist er doch gefangen in und durch diese gerade auch körperlich manifestierte Selbstkontrolle. Eine Selbstkontrolle, die ihm schließlich dann eine seiner wirklichen Stärken raubt. Nämlich seine Stimme. Als Frau Böttinger ihm eine Frage an ihn stellt, verschlägt es total die Sprache. Er kann einfach nicht mehr.


Steinbrück, der Kandidat, schweigt.


Was ist passiert? Was hat das Zittern seiner Finger, seiner Hand zu bedeuten? Nun, es ist eindeutiger Ausdruck einer normalen körperlichen Reaktion, man spricht hier von halb-autonomen Körperreaktionen, die besonders unter hohem Stress und in großer, gerade auch emotionaler Not, auftreten und sichtbar sind. Diese Reaktionen sind kognitiv nicht mehr kontrollierbar.


Diese Reaktionen des Körpers sind aber völlig normal. Eine solche Reaktion, ein solches Zittern,  stellt zudem eine natürliche  Möglichkeit dar, die im Körper entwickelten Spannungen wieder abzubauen, los zu werden, um wieder in ein emotionales Gleichgewicht zu kommen.


Und was heißt das für den Kandidaten? Einerseits räumt es mit dem Irrglauben auf, dass diesen Menschen nichts erschüttern kann, dass dieser Mensch unnahbar, unangreifbar sei. Andererseits stellt diese Szene unter Beweis, welch enormem, gerade auch medial provoziertem Druck dieser Mensch ausgesetzt war und dies tief in seinem Inneren mit sich selbst ausgemacht hat, ohne dass es jemand gemerkt hat. Ohne dass jemand dies überhaupt bei diesem Mann für möglich gehalten hat.


Steinbrück geht als Kandidat bis an seine emotionalen Grenzen. Steinbrück riskiert sich selbst. – Seit gestern weiß man, dass Steinbrück auch anders ist.


Steinbrück könnte jetzt, die letzten 100 Tage,  an dieser Erfahrung anknüpfen. Medien und Gesellschaft könnten es Steinbrück nachmachen und sich durch diese Erfahrung selbst erschüttern lassen. Was da heißen würde, in Zukunft auch neu auf ihn zu schauen.