Thomas Szasz - der libertäre Therapiekritiker

Der aus Ungarn stammende und 1938 in die USA emigrierte Psychiater, Psychiatriekritiker und Psychoanalytiker Thomas Szasz (1920-2012) ist im deutschen Sprachraum insbesondere durch seine radikale Kritik am Konzept von psychischen Erkrankungen bekannt geworden. Sein frühes Buch Geisteskrankheit – ein moderner Mythos, das 1961 in der Erstauflage in den USA erschien, wurde 2013 im Carl Auer Verlag in einer deutschen Fassung neu herausgegeben. Fritz B. Simon bewertet das Buch als „eines der wichtigsten psychiatrischen Bücher des 20. Jahrhunderts – wenn nicht gar [als] das wichtigste“ (Backcover). Es sollte „nicht nur zur Pflichtlektüre jedes Psychiaters oder Psychotherapeuten [gehören], sondern jedes in der Psychiatrie Arbeitenden, jedes Sozialarbeiters, Lehrers, Pfarrers und jedes interessierten Laien, der mit dem abweichenden Verhalten seiner Mitmenschen konfrontiert ist“ (Simon in Szasz, S. 12).


Dieser These stimme ich vollständig zu. Aber nicht nur, weil Szasz die moderne Psychiatrie sowie ihre wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen radikale infrage stellt, sondern vor allem auch deshalb, weil sein Konzept, seine vielen Bücher und Artikel mit einer radikalen Freiheitsphilosophie einhergehen, die seit den 1950er Jahren in den USA unter dem Label „Libertarismus“ firmiert. In der anekdotenhaften Darstellung der Geschichte der US-amerikanischen libertären Bewegung von Jerome Tuccille (2016, Meist beginnt es mit Ayn Rand. Libertäre Geschichte(n), Grevenbroich) wird berichtet, dass Szasz Anfang der 1970er Jahre sogar im Gespräch war, um für die gerade gegründete Libertarian Party für das Amt des Gouverneurs von New York zu kandidieren (vgl. ebd., S. 156). Szasz entschied sich letztlich dagegen, und Tuccille, der Autor des benannten Buches, wurde der Kandidat. Bemerkenswert ist jedoch, dass Szasz für diese Aktion im Gespräch war und offenbar auch die Kandidatur überlegte.


Szasz teilte die libertäre Auffassung, dass die persönliche Freiheit eines der höchsten moralischen Werte unserer Gesellschaft ist und dass es darauf ankommt, diese Freiheit immerfort gegen politische und eben auch psychiatrische Versuche zu verteidigen, sie einzuschränken. Gerade die Verquickung der Psychiatrie mit dem Politik- und dem Rechtssystem, etwa um psychiatrische Zwangseinweisungen zu realisieren, lehnte Szasz vehement ab. Als Kehrseite der psychiatrischen Freiheitsberaubung sah er, dass den Menschen damit zugleich ihre Verantwortung für das eigene Handeln abgenommen werde.


Als geistige Wegbereiter des amerikanischen Libertarismus gelten noch heute u. a. die Mitbegründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie, insbesondere Ludwig von Mises (1881-1973) und Friedrich August von Hayek (1899-1992), die ebenfalls in den USA wirkten und bei uns als Wegbereiter des Neoliberalismus kritisiert werden. Szasz ergänzte die radikal-liberalen bzw. libertären Ansätze der Autoren von Mises und von Hayek, indem er deren Kritik an allen staatlichen Bestrebungen, die Freiheit der Menschen zu minimieren, um den Blick auf die Psychiatrie und auf die problematischen Entwicklungen zu einem „therapeutischen Staat“ erweiterte. So konstatierte er etwa, dass „Mises […] von so großer Bedeutung [ist], weil er erkannte, dass es sich bei den großen kollektivistischen ‚Befreiungs‘bewegungen des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus (Nazismus) und Internationaler Sozialismus (Kommunismus) schlicht um Wiederauflagen der Sklaverei handelte – und weil er unermüdlich und gegen große Widerstände gegen sie ankämpfte“ (Szasz, 2002, Mises und die Psychiatrie, http://www.szasz-texte.de/texte/mises-und-die-psychiatrie.html [22.08.2016]). Er bedauerte jedoch, „dass Mises nicht sah, dass Psychiatrie (und Psychoanalyse durch ihr Bündnis mit der Psychiatrie) auch eine Form eines auf den Staat fixierten Pseudo-Liberalismus ist; und dass Psychiatrie dadurch, dass sie mit Medizin und Heilung assoziiert wird und nicht mit Militarismus und Töten, die heimtückischste und auf lange Sicht gefährlichste Form von Staatsgläubigkeit (statism) ist, die Menschen jemals hervorgebracht haben“ (ebd.).


Auch die Therapeutisierung der Gesellschaft sah Szasz grundsätzlich kritisch, insbesondere den modernen Glauben an die Allmacht des therapeutischen Handelns. Diesbezüglich verwies er – wieder mit großer Radikalität – auf die nicht gewollten Effekte dieser Entwicklung: „Die meisten der modernen sozialen Therapien machen den Patienten kränker, als er war. Der Mensch begehrt ‚Therapie‘ von den Fachleuten, als wäre er ein narkotisierter Chirurgiepatient. Im Hinblick auf menschliche Belange fährt er damit allerdings schlecht. In Ethik, Politik und Psychiatrie taugen die Fachleute nur als Informationsquellen. Sie können eine Gesellschaft beraten oder informieren, aber zu steuern vermögen sie diese nicht" (1963, Recht, Freiheit und Psychiatrie, Frankfurt/M., S. 339 f.)


Angesichts der systemischen Verfahren von Therapie und Beratung können wir sagen, dass wir das verstanden haben, dass wir eben nicht versuchen, bio-psycho-soziale Prozesse zu steuern, sondern dass wir bestenfalls förderliche soziale Kontexte kreieren, anregende (lösungsorientierte) Gespräche anbieten, die letztlich persönliche Freiheit(sgrade) fördern wollen - genauer: die individuelle Autonomie, persönliche Verantwortungsübernahme und lebensweltliche Selbstorganisation der Nutzer/innen unserer Dienstleistungen zu maximieren versuchen. Oder?