Die irrationale Angst vor der Gewichtszunahme

Jürg Liechti und Monique Liechti-Darbellay über die Heilungschancen bei Anorexia nervosa


Wie beschreiben Sie in wenigen Worten das Krankheitsbild der Anorexia nervosa? Ab wann gilt jemand als magersüchtig?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Anorexia nervosa ist in erster Linie eine psychische Krankheit des Jugendalters, die vor allem Mädchen betrifft. Symptome sind ein durch Hungern selbst herbeigeführtes Untergewicht, eine nicht einfühlbare Angst vor Essen und unkontrollierbarer Gewichtszunahme, eine Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers, Fehlernährung mit Einsetzen eines Hungerstoffwechsels und metabolischen Veränderungen. Bei näherer Untersuchung finden sich auf psychischer Ebene zusätzlich eine tiefe Verunsicherung, übersteigerte Angst vor Zurückweisung und vor Identitäts- und Kontrollverlust. An Magersucht muss gedacht werden, wenn Jugendliche Essen vermeiden und innerhalb weniger Monate massiv an Gewicht verlieren.


Wer ist besonders anfällig, an Magersucht zu erkranken?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Anfällig sind hochsensible, zu Perfektionismus neigende und verletzliche Jugendliche, die sich durch Leistung und Anpassung hervortun, gleichzeitig aber unter ständiger Angst leben, nicht zu genügen oder zurückgewiesen zu werden. Intellektuell erweisen sie sich oft als leistungsstark und bemüht, einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Gleichzeitig reagieren sie auf tatsächliche oder vermeintliche Niederlagen übermäßig gekränkt und haben Schwierigkeiten, die eigene Not und eigene Bedürfnisse sozial verträglich und effizient anzumelden und durchzusetzen.


Ist Magersucht behandelbar?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Ja, Magersucht ist grundsätzlich behandelbar. Je früher nach Erscheinen der typischen Symptome eine störungsspezifische Therapie geschieht, umso besser ist die Prognose.


Wie viel Einsicht und Motivation der Betroffenen braucht es für eine Veränderung der Situation?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Für die Betroffenen ist das anorektische Hungersyndrom nicht das Problem, sondern tendenziell ein Bewältigungsversuch einer nicht einfühlbaren, irrationalen Angst vor Essen und einer nicht kontrollierbaren Gewichtszunahme. Infolgedessen kann eine wirksame Einsicht in die Notwendigkeit von Essen und einer Gewichtszunahme nicht erwartet werden. Zwar ist Motivation vorhanden, doch wegen der Gewichtsphobie ist sie eher auf eine Therapievermeidung angelegt. Das ist der Hauptgrund für den empirisch gut belegten Nutzen des Einbezugs der Eltern. Der elterliche Vertrauenskredit sowie Gefühle der Loyalität, Bindung und Verpflichtung ermöglichen Therapieprozesse, die die fehlende Veränderungseinsicht und Therapiemotivation wettmachen können und dem Einzelsetting verwehrt bleiben.


Wissenschaft sei nur der aktuelle Stand des Irrtums, heißt es. Welchen Irrtümern und Halbwahrheiten sitzen Behandler mit den gängigen Behandlungsmodellen auf?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Zweifelsohne sind heutige Behandlungsmodelle mit Unkenntnis und Irrtümern behaftet. So ist es gut möglich, dass in Zukunft neuronale Prinzipien und spezifische „Schaltkreise“ erkannt werden, die z. B. eine wirksame Pharmakotherapie der Gewichtsphobie erlauben.


Ist die Anorexie mehr als eine psychologische oder familiärgesellschaftliche Erkrankung? Schließt sie auch genetische und metabolische Aspekte ein?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Aus heutiger Sicht wird eine multifaktorielle Genese ein- schließlich metabolischer und genetischer Einflüsse angenommen. Nicht die spezifische Störung Anorexie ist vererbt, sondern gewisse Bedingungen dazu. Eine „letztliche“ Ursache ist nicht bekannt.


Wie wichtig ist die Einbeziehung von Menschen des nahen Umfelds für die Behandlung und welche Rolle spielen diese?


Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay: Die evidenz-basierte Therapieforschung weist darauf hin, dass die Einbeziehung der Eltern von anorektischen Jugendlichen wichtig ist. Im Rahmen einer qualitativen Studie konnten wir zeigen, dass dies selbst für ältere Patientinnen zutrifft, die gar nicht mehr zu Hause wohnen. In Beziehungen zwischen Menschen des nahen Umfeldes werden durch die Not Kräfte der wechselseitigen Bindungen, Fürsorge, Loyalität und emotionalen Verpflichtung aktiviert, die sich sowohl problematisch wie hilfreich auswirken können. Problematisch sind sie dann, wenn sie zu verstrickten Interaktionsmustern führen, die das Problem aufrechterhalten. Heilsame Kräfte stellen sich in den Dienst einer gesunden Entwicklung. Diese in Gang zu setzen ist Aufgabe und Ziel der Therapie.


Das Buch "Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit" von Jürg Liechti und Monique Liechti-Darbellay erscheint im März 2020 im Carl-Auer Verlag.