Aus dem systemischen Leben eines Musikerziehers

Liebes Webtagebuch,


ich mache täglich eine Zeitreise. Dazu setze ich mich in meine Zeitmaschine, die von einem französischen Autohersteller für mich produziert wurde. Dann starte ich langsam, lege die ersten Gänge ein, fahre zurück ins 19. Jahrhundert (erinnert irgendwie an Wien!), beschleunige und werde immer schneller, bis ich in der Vergangenheit im mittelalterlichen Mödling angekommen bin. Auf den ersten Blick fällt gar nicht auf, dass ich mich jetzt in der Vergangenheit befinde. Es ist ein anständiges Schulgebäude, die Menschen sind eigentlich auch passabel gekleidet, manche futuristisch zwar, aber sonst ganz passabel. Die Antiquiertheit des Systems wird erst auf den zweiten Blick und nach einem längeren Aufenthalt deutlich: in einer Klasse drängen sich 36 Stück 15-Jährige eng aneinander, in meinem Musikraum gibt es keine Fenster, nur eine einzige Oberlichtenklappe lässt sich öffnen und was man sonst so an einem Tag alles an Aussagen über einander aufschnappt, lässt einem nicht gerade das systemische Herz höher springen. Ich bin so richtig in der Vergangenheit angekommen.


Ach ja, liebe Leserinnen und Leser, ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, dass ich eigentlich Musiklehrer bin. Mir wird sofort schlecht, wenn ich mich daran erinnere, dass meine amtliche Berufsbezeichnung „Musikerzieher“ lautet. Vornehmere Menschen sagen auch „Musikpädagoge“ oder „Musikvermittler“ dazu. Ich sehe das ja auch so mit der Musikvermittlung, aber amtlich heißt mein Beruf eben „Musikerzieher“. Mein Auftrag ist also, Menschen zur Musik hin zu ziehen. Zu welcher denn? Kann mir bitte in den Weiten des Netzes jemand helfen, den Begriff „Musik“ zu definieren? Hm, vielleicht ist es mit „Erziehung“ leichter, das ist doch ein wirklich nachschlagenswürdiges Wort, also her mit dem etymologischen Wörterbuch. Also „Erziehung“ das hängt auf jeden Fall einmal mit „ziehen“ zusammen, und das wiederum steckt in den Begriffen „Zaum“, „Zeug“, „Zögling“, „Zucht“, „zucken“ und „Zügel“. Ich soll als Musikerzieher also meine Zöglinge mit Zaumzeug und Zügel unter Zusammenzucken zur züchtigen Musik ziehen... Welch schöne Aufgabe! Wie gut das funktioniert, kriege ich hie und da und peripher mit, wenn sich Kolleginnen darüber beschweren, dass die bösen Schülerinnen nichts lernen wollen oder so dumm sind oder so unwillig und überhaupt.


Wer in der Vergangenheit lebt, muss für schlechte Tage vorsorgen! Insofern habe ich mir schon vor Jahren eine Kristallzauberkugel angeschafft, die ich dann auspacke, wenn’s zu eng wird in der Vergangenheit. Da blicke ich dann tief hinein und dann kommt der große Moment, in dem ich die berühmte Wunderfrage stelle. Also wenn über Nacht ein Wunder passieren wäre, woran würde man es am kommenden Morgen als Erstes erkennen. Ich würde nicht mehr in der Vergangenheit leben, sondern in der schulischen Zukunft! Wie die aussehen soll, darüber gibt’s ja bekanntlich verschiedene Visionen und Spekulationen.


Alpha und Omega aus dem Lexikon für Systemische Musikpädagogik


A wie Anschlussfähigkeit


Die Erhöhung von Anschlussfähigkeit ist überhaupt eines der meist unterschätzten, aber höchst hilfreichen Prinzipien systemischer Pädagogik und konstruktivistischer Erkenntnistheorie. Anschlussfähigkeit wird dann erhöht, wenn zwischen Kommunizierenden voreinander rekonstruierbare Werthaltungen vorherrschen, ähnliche soziokulturelle Erfahrungskontexte bestehen, die Bereitschaft zur gegenseitigen Rekonstruktion von Sozialisation vorhanden ist, man sich um Nachvollziehbarkeit bemüht, Wortbedeutungen und der Gebrauch von Sprache klar sind und eine Atmosphäre der Wertschätzung, Achtung und Teilname an den Konstruktionen anderer vorherrscht. Anschlussfähigkeit bemüht sich um so etwas wie „Verstehen“ und bezieht sich nicht nur auf kognitive Inhalte, sondern auch auf die emotionale Ebene und die Beziehungsebene. Systemische Musikpädagogik legt großen Wert auf eine, zum Wohle aller, gestaltete Beziehungsdidaktik.


Auf den Musikvermittler bezogen bedeutet dies, dass er/sie sich täglich die Frage nach seiner/ihrer Anschlussfähigkeit seiner Inhalts- und Beziehungsdidaktik stellen muss. Denn auch wenn man Anschlussfähigkeit vonseiten der Lernerinnen einfordern kann, Musikvermittlung findet immer noch in einem Zwangskontext statt und der Musikvermittler ist der mit der Bemühung um Anschlussfähigkeit Beauftragte. Es ist also ein Spiel, sich einmal auf unbekanntes Terrain vorwagend (z.B. zeitgenössische Formen musikalischer Jugendkultur), ein anders Mal in vertrauten Gefilden stattfindend (z.B. Musikgeschichte). Eine der Hauptaufgaben des Musikvermittlers ist, dieses Spiel wohl dosiert und immer anschlussfähig zu gestalten.


Z wie Zukunft


Im Übrigen bin ich der felsenfesten Meinung, dass die Zukunft der Pädagogik tatsächlich in systemisch-konstruktivistischen Ansätzen und deren Fortentwicklung liegt. (Achtung: Anfang einer Werbeeinschaltung!) Wer mehr über dieses Thema wissen möchte, denn möchte ich allerherzlichst einladen, mein neues Auer-Buch „Musik als Anstiftung“ zu lesen und mit mir in Diskussion zu treten. Ich verspreche, dass es ganz anders geschrieben ist, als diese teils-ironischen Tagebuch-Texte hier und voller ernsthafter Vorschläge für eine verbesserte Vermittlungsarbeit im Zuge von pädagogischen Einrichtungen. (Ende der Werbeeinschaltung). Dieses Thema beschäftigt mich wirklich. Eine andere Kristallzauberkugel, die ich wärmstens allen in die Zukunft Schauenden empfehlen möchte, ist die Seite von Kersten Reich unter http://www.uni-koeln.de/ew-fak/konstrukt/didaktik/


Im Ausblick auf morgen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich einige dringende Fragestellungen zu systemischem Denken an Sie, liebe Leserinnen und Leser stellen werde, deren Antworten mir noch nicht ganz klar sind und von denen ich behaupte, dass sie von den Systemikerinnen üblicherweise mit nicht so ganz großem Enthusiasmus behandelt werden...