Bob Woodward: "Fear"

Das Buch von Woodward (einem der beiden Journalisten, die Nixon durch die Aufklärung der Watergate-Affäre zum Rücktritt veranlasst haben) über das Weiße Haus Donald Trumps bietet an Fakten nicht viel Neues. All die - manchmal unglaublichen - Sätze und Entscheidungen Trumps, in denen er Staaten als Shitholes bewertet, seine unsäglichen Tweets, Drohungen, verhängten Zölle usw. sind bekannt. Trotzdem ist das Buch sehr informativ.


Es beschreibt - ohne jeden Analyse- oder Erklärungsversuch - den Alltag im Weißen Haus und das Alltagsverhalten Trumps. Es liefert eine Aneinanderreihung charakteristischer Szenen und Situationen, zeitlich geordnet. Dabei erweist sich der Autor - da dürfte er seinem Protagonisten ähneln - als in erster Linie an Personen und ihren Beziehungen zueinander interessiert. Deswegen gelingt ihm auch keine über persönliche Merkmale hinausgehende Sicht auf die Situation und das Beziehungsnetz der Beteiligten bzw. die Logik ihrer Interaktion (er versucht allerdings auch gar nicht, solch eine Perspektive einzunehmen). Wenn man so auf Trump und seine Mitarbeiter schaut, dann landet man fast zwangsläufig bei Fragen der Psychopathologie der Beteiligten (nicht nur in Bezug auf Trump).


Mein Schluss als jemand, der beim Lesen des Buchs durch eine organisationstheoretische Brille geschaut hat, ist, dass das von Woodward beschriebene Chaos daraus resultiert, dass vieles, was eine funktionierende Organisation und gute Führung ausmacht, im Weißen Haus nicht gegeben ist. Formale Strukturen und formalisierte Kommunikationsprozesse,  Konditional- und Zweck-Programme oder eine überlieferte Organisationskultur haben innerhalb des Weißen Hauses offenbar keinerlei nachhaltige Wirkung als Entscheidungsprämissen. Was bleibt, sind informelle Strukturen (die sich schnell ändern können) und Personenorientierung. Wer immer Lust hat, kann zu Trump und mit ihm sprechen, seine Familienmitglieder (Tochter, Schwiegersohn) kommen und gehen, wie es ihnen passt in das Oval-Office; andere ebenfalls. Wie in einer Familie mit einem schizophrenen Mitglied gibt es keine klaren Beziehungsdefinitionen und nur wenige oder keine zuverlässigen Beziehungen (auch wenn Trump immer wieder totatle Loyalität einfordert, was er wahrscheinlich deswegen tut und tun muss, weil er selbst solche Beziehungen nicht bietet, außer vielleicht zu Angehörigen seiner Familie). Wechselnde Koalitionen und immer wieder neu konstellierte Machtkämpfe sind die Folge. Da es keinerlei verbindliche Prozeduren oder Regelkommunkationen zur Entscheidungsfindung gibt, muss jede Frage immer wieder neu verhandelt werden, und das Ergebnis hängt davon ab, mit wem Trump gerade zusammen ist. Da das schlechte Gedächtnis und die nur geringe Aufmerksamkeitsspanne des Präsidenten dafür sorgen, dass nicht einmal personenorientierte Entscheidungen als verlässlich betrachtet werden können, ist eine Entwicklung der Zusammenarbeit - etwa das Zusammenwachsen eines Teams - nicht möglich. Das wird noch dadurch erschwert, dass die Fluktuation der Mitarbeiter hoch ist. Entweder sie kündigen nach relativ kurzer Zeit völlig entnervt, oder aber sie werden gefeuert.


Da Trump als Person nicht berechenbar ist, aus dem Bauch heraus handelt, für sachliche Argumente nicht zugänglich ist und sich erratisch verhält, er aber der oberste Hierarch ist, bleiben die Entscheidungsmuster denen der unberechenbaren Willkür von Autokraten oder in einem Feudalsystem, wo ein Kaiser zum Brennen seiner Hauptstadt die Laute (oder Golf) spielen kann, ähnlich. Eine Strategie wird nicht entwickelt, da Trump als Immobilienentwickler dies in seinem Berufsleben nicht brauchte - kurzfristige Bauprojekte funktionieren eben anders als die langfristige Politik eines Staates. Er analysiert alle sozialen und politischen Fragen nach dem Muster des Deals, d.h. komplexe soziale Systems werden von ihm in Zweierbeziehungen aufgelöst und die Qualität von Entscheidungen wird an finanziellem Gewinn oder Verlust bewertet. Der Unterschied zwischen internationalen Beziehungen und interpersonellen Beziehungen ist Trump offensichtlich nicht klar, denn er versucht internationale Politik auf persönliche Beziehungen  zwischen "Staatslenkern" zu reduzieren. Und in diesen dyadischen Beziehungen besteht seine "Strategie" zu einem "guten Deal" zu kommen, darin, dass er zunächst maximal droht und beleidigt, um dann - im Rahmen von Verhandlungen - davon abzurücken und große Sympathie zu zeigen (siehe den Umgang mit Nordkorea und Kim). Dass dabei gute Ergebnisse erzielt werden (vor aus einer langfristigen politischen Perspektive internationaler Beziehungen), muss bezweifelt werden. Ganz im Gegenteil, die Risiken sind ziemlich beunruhigend.


Als ein anonymer hoher Funktionsträger des Weißen Hauses in einem Meinungsbeitrag in der New York Times vor ein paar Tagen äußerte, es gäbe innerhalb des Weißen Hauses eine Art heimlicher Opposition gegen Trump, da hatte ich Zweifel an den Motiven ihrer Mitglieder. Warum kündigen sie nicht, wenn sie diesen Präsidenten für eine Katastrophe halten? Aber nach der Lektüre des Buches muss ich sagen: Wir alle sollten ihnen dankbar sein, denn sie versuchen - wahrscheinlich unter hohen emotionalen und intellektuellen Kosten - die schlimmsten Entscheidungen Trumps zu verhindern. Das scheint mir bei diesem Präsidenten eine verdienstvolle und aufopferungsvolle Funktion, die wahrscheinlich aktuell nicht angemessen honoriert und gewürdigt wird...