Das Ende des Nationalismus

Vor ein paar Tagen habe ich in Wien an einer Podiumsdiskussion über die Zukunft der Gesellschaft teilgenommen. Die anderen Diskutanden waren Österreicher, soweit ich feststellen konnte: aus Wien. Nun ist Wien ja bekanntermaßen der urbane Vorbau eines großen (Zentral-) Friedhofs. Daher war es nicht verwunderlich, dass die meisten der Wiener eine Grabesmine zeigten und ziemlich pessimistische Sichtweisen - was die Zukunft betrifft - äußerten. Was die Vergangenheit angeht, so waren sie eigentlich recht positiv in ihrem Urteil, denn sie konnten darauf hinweisen, was sich inzwischen alles zum Besseren in Europa verändert hat (z.B. in der Rolle der Frauen, dem Wohlstand, der Nachhaltigkeit usw.). Die Niedergeschlagenheit lag vor allem an den sich in ganz Europa (und dem Rest der Welt) breit machenden nationalistischen Tendenzen (was angesichts einer FPÖ-Regierung ja verständlich ist).


Ich selbst bin zumindest, was die langfristigen Perspektiven angeht, nicht so pessimistisch. Für mich ist der akut festzustellende Drang zum Nationalismus, ein regressives Phänomen. Wenn eine alte Ordnung zu Ende geht, dann entsteht meist, bevor sich neue Strukturen entwickeln, erst einmal der Impuls, zurück zu den "guten alten Zeiten" zu wollen. Was zu Ende geht, ist die Phase des Neoliberalismus und des Marktfundamentalismus. Politische Entscheidungen werden nicht mehr blind-gläubig der  vermeintlichen "Rationalität" von Märkten überlassen, sondern politisch entschieden. Der neue (=alte) Nationalismus ist solch ein Versuch. Aber er führt nicht weiter, sondern zurück. Er ist m.E. eine Form des Atavismus oder der Regression, so wie man als Individuum, wenn man in eine Krise gerät, auf alte Lösungsmechanismen zurück greift. Ich selbst habe, zum Beispiel, Skilaufen zunächst ohne Skilehrer "gelernt". Dabei habe ich eine falsche, nicht-funktionelle Kurventechnik eingeübt, was dazu führte, dass ich oft auf die Schnauze fiel. Als ich dann endlich einen richtigen Lehrer hatte und mir eine andere Kurventechnik angeeignet hatte, funktionierte die nur, solange ich nicht in Stress geriet. War der Hang zu steil, reagierte ich instinktiv mit meiner alten, nicht-funktionierenden Technik, was dazu führte, dass ich unweigerlich stürzte. Ganz analog dürfte der Rückgriff auf den Nationalismus dazu führen, dass Bevökerungen und Volkswirtschaften auf die Fresse fliegen werden, wenn der Versuch unternommen wird, sich vom Rest der Welt zu isolieren.


Das heißt aber nicht, dass alles beim alten bleiben sollte und man weiter dem Markt vertrauen sollte.  Es bedarf nicht nur der Regelung der Märkte (z.B. der Finanzmäkrte), sondern auch neuer politischer Strukturen. Ich denke, in Europa wird die Entwicklung gleichzeitig in zwei entgegen gesetzte Richtungen gegen müssen. Um in der Weltpolitik gegenüber den USA oder China oder Russland nicht unter die Räder zu kommen, wird eine stärkere Integration stattfinden müssen, die u.a. mit einer gemeinsamen Verteidiungs-, Finanz- u. Wirtschafts-, Wissenschafts- und Außenpolitik verbunden sein muss. Und auf der anderen Seite werden die Regionen und Gemeinden eine erheblich größere Autonomie gewinnen müssen, auch unter Nutzung von basisdemokratioschen Verfahren in Fragen, die unmittelbar die Lebensverhältnisse der Bevölkerung betreffen.


Es geht also m.E. darum, eine Sowohl-als-auch-Lösung und -Struktur in Europa zu entwickeln, mit einer stärkeren zentralen politischen Steuerung, was die Außen- und Wirtschaftsbeziehungen etc. angeht, und einer stärkeren Dezentralisierung, was die alltagsnahen Fragen und Regelungen des täglichen Lebens der Bevölkerung betrifft...


Was allerdings meinen langfristigen Optimismus reduziert, ist die Gefahr, dass er  ziemlich viel Schaden anirchten kann (Trump, Salvini, PiS, Orban, Erdogan, Duterte, Putin usw.), bevor sich allgemein die Einsicht durchsetzt, dass er vollkommen bescheuert und destruktiv in seinen Wirkungen ist...