Netzwerke und strukturelle Löcher

Gestern Abend hatte ich ein "Kränzchen"-Treffen. Das Kränzchen heißt wirklich so und besteht schon sehr lange. Ich selbst bin seit 21 Jahren dabei, dabei bin ich der Jüngste in der Runde, der Älteste wird 84. Wir sind 10 Personen, drei Frauen und sieben Männer, alle Psychotherapeuten, drei aus dem systemischen "Lager". Ursprünglich war das Kränzchen ein informeller Arbeitskreis aus Mitgliedern der hiesigen psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft, auch heute noch sind die meisten Mitglieder Psychoanalytiker. Ich wurde in den Kreis vor 21 Jahren eingeladen, um einen damals von mir in der Zeitschrift für Systemische Therapie erschienenen Artikel über den Nutzen einer Theorie autopoietischer Systeme für eine klinische Epistemologie vorzustellen und zu diskutieren. Maturana war also schon 1984 in der psychoanalytischen Szene bemerkt worden, jedenfalls in dem kleinen Sektor, der sich schon damals intensiver damit befasste, was es so alles an Neuem in der Welt gab. Weil die Diskussion so interessant war, vereinbarten wir eine Fortführung, und schließlich wurde ich eingeladen, doch gleich beim Kränzchen zu bleiben. Im Laufe der Zeit erweiterte sich der Kreis auf die heutige Zahl, seit über 15 Jahren ist die Zusammensetzung gleich, an Grundberufen sind PsychologInnen, Ärzte, Juristen, SozialwissenschafterInnen und Erziehungswissenschaftler vertreten.


Lange Jahre trafen wir uns im ca. sechswöchigen Abstand und behandelten die unterschiedlichsten Themen, die sich meist daraus ergaben, dass ein Teilnehmer ein Manuskript oder einen Vortrag in der Vorbereitungsphase vorstellte, von Reisen oder Tagungen berichtete oder unterschiedlichste Neuerscheinungen diskutiert wurden. Eingeleitet werden die Treffen immer mit einem gemeinsamen Abendessen, dann wird diskutiert.


Auch wenn in der letzten Zeit die Zahl der Treffen abgenommen hat und der gesellige Aspekt und die Freude, sich in dieser Besetzung wieder zu sehen, die inhaltliche Arbeit überwiegen, war das Kränzchen für mich über all die Jahre eine wunderbare Gelegenheit, Ideen über klinische, soziale und gesellschaftliche Sachverhalte auszutauschen, die auf ganz unterschiedlichem Mist gewachsen und in unterschiedlichen Sprachen formuliert waren, manchmal auf Anhieb anschlussfähig erschienen, manchmal erst auf den zweiten Blick und manchmal auch nach dem dritten noch nicht. Das Verbindende war die Neugier und das Interesse an der Person und der Gedankenwelt der anderen, die in ganz unterschiedlichen Diskursen aktiv eingebunden waren und sind, sowie die Bereitschaft, eigene "Wahrheiten" immer wieder zu überprüfen und auch im Alter noch Neues zu lernen.


Netzwerktheoretisch könnte man auch sagen, dass die Gruppe ein "strukturelles Loch" gefüllt hat. Diesen Begriff ("structural hole") hat Ronald S. Burt geprägt, ein amerikanischer Soziologe und Coleman-Schüler, der sich in langjähriger Forschung mit der Entwicklung von Ideen in und zwischen sozialen Netzwerken beschäftigt hat. Auf Burt bin ich (als Sozialwissenschaftler) übrigens erstmals von meinem Psychologen-Freund und nimmermüden systemagazin-Unterstützer Wolfgang Loth aufmerksam gemacht worden (einen herzlichen Gruß an diesen Fast-Alles-Wisser an dieser Stelle).


Burt postuliert in seinen Arbeiten in etwa, dass Neues vor allem an den Rändern bzw. den Zwischenräumen von Netzwerken entsteht, nicht in ihren Zentren. Menschen, die sich vorzugsweise unter ihresgleichen aufhalten, haben die Tendenz, auch ähnlich zu denken und zu empfinden. Dies fördert einerseits die Stabilität und Integration, weil Berechenbarkeit und Vertrauen zunehmen. Andererseits wird Kreativität dadurch eher blockiert. Denn Kreativität habe weniger mit schöpferischen Prozessen zu tun als mit Kommunikation: "Creativity is an import-export game. It's not a creation game." Import und Export finden aber an den Rändern von Netzwerken statt. Der Fokus bei der Untersuchung des Erfolges von Ideen liegt für Burt also nicht auf der Urheberschaft (Wer hat als erster die Idee gehabt, wem gehört sie?), sondern auf der Frage: wer transportiert sie erfolgreich in einen Bereich hinein, in dem sie eine Wirkung erzielen können? Diese Leistung wird durch von ihm so genannte Ideen-"Broker" erledigt, die Zugang zu unterschiedlichen Netzwerken und Diskursen haben.

"Leute, die in den Überschneidungsbereichen sozialer Welten leben, tragen ein erhöhtes Risiko für gute Ideen", so Burt. Komplementär zum Ideen-Brokerage gibt es eine "Closure"-Tendenz innerhalb der Netzwerke (Burt untersucht dies am Beispiel von Unternehmen), mit der aus den neuen Ideen wiederum eigenes soziales Kapital geschaffen wird, ein eher strategisches Unterfangen, das wiederum auf eine effektive Abschirmung der Netzwerke nach außen angelegt ist. Brokerage und Closure stehen für Burt in einer komplementären Beziehung.


Ich für meinen Teil halte mich gerne in allen möglichen "strukturellen Löchern" auf, zwischen Gesellschaftstheorie und klinischer Epistemologie, zwischen Systemtheorie und Psychoanalyse, zwischen Ästhetik und Pragmatik usw.; als gelernter Sozialwissenschaftler und Völkerkundler habe ich es - wie ich finde - auch schon von meinem Ausgangspunkt ein wenig leichter damit. Übrigens auch aus diesem Grunde halte ich die derzeitige Beschränkung des Zugangs zum Psychotherapeuten-Beruf auf Diplom-PsychologInnen für eine grandiose Dummheit, denn die Öffnung der Psychologie zu den Nachbardisziplinen auch im psychotherapeutischen Sektor hat ihr sicherlich noch nie geschadet. Zudem habe ich in den über 20 Jahren meiner Weiterbildungstätigkeit oft gerade diejenigen als besonders kreativ erlebt, die den "falschen" Grundberuf hatten und aus diesem Grund erst einmal "structural holes" zu überbrücken hatten. Kluge Psychologen tun das ohnehin auch, aber allzu Bequeme können notfalls auch darauf verzichten.


Der systemische Ansatz, der mittlerweile auch in die Jahre gekommen ist, kann aus meiner Sicht nur davon profitieren, wenn neue Gedanken von außen importiert werden - systemische Entwicklungen sind am ehesten in der Auseinandersetzung mit Ansätzen und Theorien mittlerer Reichweite zu erwarten, die nicht zum eigenen Kernbestand gehören (etwa der Säuglings- und Affektforschung, Metapherntheorie, cognitive sciences, Hirnforschung usw.).


Unser Kränzchen ist in die Jahre gekommen. Die Kreativität spielt hier nicht mehr die Hauptrolle. Neugier und Interesse sind immer noch da, die sorgfältige Analyse und Argumentation wird aber schon häufiger dem Genuss geopfert. Immerhin eine annehmbare Alternative! Im Laufe der Zeit ist aus dem "structural hole" selbst ein Netzwerk mit eigenen Ritualen, Redundanzen und "Closure" geworden, welches lieb und vertraut erscheint und einem die Gelegenheit verschafft, mit Wohlbehagen auf die eigene Geschichte zu schauen.


Wir brauchen also unsere Netzwerke, um uns sicher und geborgen fühlen zu können. Um uns weiter zu entwickeln und neuen Ideen zum Erfolg zu verhelfen, müssen wir jedoch regelmäßig in strukturelle Löcher springen. Allerdings hat Ronald Burt auch noch eine Notlösung in Petto: "The easiest way to feel creative is to find people who are more ignorant than yourself".


Wer nachlesen möchte, kann hier einen Text von Burt als PDF finden: ["Social Origins of Good Ideas"](http://web.mit.edu/sorensen/www/SOGI.pdf) sowie einen [Artikel über Burt](http://www.wehaitians.com/where%20to%20get%20a%20good%20idea%20steal%20it%20outside%20your%20group.html) aus der New York Times vom 22.5.2004. Viel Spaß bei der Lektüre.