Sprache, Körper, Systeme

Die langandauernde Auseinandersetzung, ob soziale Systeme nun aus Kommunikationen oder aus Handlungen oder gar Personen bzw. „Mitgliedern“ besteht, zieht sich hin. Als kontingente Setzungen führen derartige grundsätzliche Theorie-Entscheidungen natürlich explizit und implizit zu unterschiedlichen Annahmen über Charakter und Funktionsweise von sozialen Systemen. Ob die eine Theorie der anderen schon allein aufgrund einer solchen Setzung überlegen ist, wage ich zu bezweifeln. Offensichtlich kann man aufgrund dieser kontingenten Entscheidungen, - die man ja unvermeidlicherweise treffen muss - bestimmte Phänomene beobachten, dafür aber andere wiederum nicht. Theorie-Entscheidungen, für die ein Wahrheitskriterium nicht mehr geltend gemacht werden kann, müssen sich also danach ausrichten, was beobachtet oder beschrieben werden soll - und das können ganz unterschiedliche Phänomene (oder Beobachtungsinteressen) sein, die jeweils unterschiedliche Theoriebedarfe hervorbringen.


Was bedeutet das für eine klinische Systemtheorie? Welche theoretischen Prämissen führen zu welchen Ergebnissen? Ich sehe einen Gewinn der Luhmannschen Perspektive darin, dass sie es ermöglicht, Psychotherapie (gewissermaßen entgegen den allgemeinen Erwartungen) als soziales System zu betrachten, das aus Kommunikationen und nicht etwa aus Personen, Gefühlen, Bewusstseinen oder gar allem zusammen besteht, und damit jenseits aller klinischer Binnenansichten als Teil von Gesellschaft beschreibbar wird. Das bedeutet aber natürlich noch lange nicht, dass dies eine privilegierte oder gar einzig relevante Beschreibung von Psychotherapie wäre.


Als Soziologe hat sich Luhmann ja nur mäßig für psychische Systeme interessiert - ihm ging es primär darum, individuelle Bewusstseine nicht als Teile sozialer Systeme zu in Rechnung stellen zu müssen. Die Entwicklung einer eigenständigen Theorie psychischer Systeme wollte er den Psychologen überlassen, die dieses Angebot bislang leider noch nicht - in jedem Fall nicht wirklich überzeugend aufgegriffen haben. Die meisten mir bekannten Ansätze haben sich auf die Übernahme von Luhmanns Schema der Systemdifferenzierung beschränkt (soziale Systeme, psychische Systeme, biologische Systeme), ohne sich intensiver mit der Frage der klinischen Brauchbarkeit dieser Systemkonzeption oder mit der Integration empirischer Befunde und Kenntnisse in die Theorie zu befassen. Eine Theorie psychischer Systeme müsste sich mehr Freiheiten nehmen, als die Theorie sozialer Systeme für sie übrig lässt.


An erster Stelle würde ich vorschlagen, den von Luhmann zu eng gefassten Kommunikationsbegriff zu erweitern. Ich sehe in der Engführung des Systemkonzeptes auf das Medium Sprache - sowohl in Bezug auf soziale als auch auf psychische Systeme - das Hauptproblem. Aus dieser Perspektive spielen Körper und Körperlichkeit nämlich nur eine Aschenputtel-Rolle. Als Begründung für diese Haltung führt Luhmann an, dass nur bei Sprache eine eindeutige Trennung von Mitteilung und Information (als wesentliches Kriterium für Kommunikation) vorläge: „Wenn diese Unterscheidung nicht gemacht wird, sieht man nur Verhalten, eine Bewegung, eine Geste, eine interpretierbare Einstellung vielleicht, aber man sieht nicht etwas, was im Kontext von Kommunikation eine Reaktion nahe legt, eine Antwort erfordert oder eine Interpretation, eine Rückfrage und dergleichen motivieren kann" (Einführung in die Theorie der Gesellschaft, Carl-Auer-Verlag 2005, S. 89).


Das finde ich schwer nachvollziehbar. Wenn man sich die Ergebnisse der Erforschung affektiver Kommunikationsprozesse in den letzten 15 Jahren vor Augen führt, wird deutlich, welch hohes Maß an Koordination und wechselseitiger Abstimmung im Mikrobereich sozialer Interaktion bereits ab der Geburt vorliegt, also lange vor der Phase des Spracherwerbes. Darüber hinaus spielen diese wechselseitigen Regulationen, die in der Regel in einer so großen Geschwindigkeit ablaufen, dass sie nur im Nachhinein und nur zu einem kleinen Teil überhaupt Gegenstand bewusster Wahrnehmung oder verbaler Kommunikation werden können, in jeder "Interaktion unter Anwesenden" eine Schlüsselrolle für das Verständnis der zugrunde liegenden Systemdynamik.


Diesen Phänomenen das Attribut „sozial“ oder „Kommunikation“ vorzuenthalten, erscheint mir mehr als fragwürdig. Ab wann wäre die Kommunikation zwischen Eltern und Kind Teil des sozialen Systems Familie, bis wann ausschließlich Verhalten? Luhmann erwähnt zwar kurz die Möglichkeiten nichtsprachlicher Kommunikation, aber eben nur als Alternative, als Substitut von Sprache, die schon verfügbar ist: „Eine Kultur der indirekten, nichtverbalen Kommunikation kann es so nur geben, wenn es Sprache gibt - in gewisser Weise als Ergänzung zur Sprache, denn wenn man die Fassbarkeit, die Beobachtbarkeit, die Rechenschaftspflicht von Sprache vermeiden will, benutzt man indirekte Kommunikation“ (ebd., S. 112). Ein, wie ich finde, äußerst schwaches Argument, das vor allem die Entwicklungsrichtung der Sprachentstehung gegen sich hat.


Eine solche konzeptuelle Erweiterung der System-Theorie müsste dem Körper eine andere Bedeutung geben als die, lediglich als materielles Substrat psychischer und sozialer Prozesse zu fungieren (und in der Soziologie gibt es bereits eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem "sozialen Körper"). Wenn neben der symbolischen Koordination von Verhalten auch die direkten körperlichen Abstimmungsprozesse affektiver Kommunikation als basale soziale Operationen (und nicht nur als Anlässe für sprachliche Kommunikation) akzeptiert werden würden, könnte eine Menge empirischer Daten sowie manche Theorien mittlerer Reichweite systemtheoretisch handhabbar gemacht werden, die bislang entweder ignoriert oder einfach nur additiv benutzt wurden, d.h. ohne wirkliche Bemühungen um eine theoretische Einbettung in die Systemtheorie. Vor allem würde diese für viele Praktiker an Attraktivität gewinnen, die sich tagtäglich mit dem Zusammenhang psychischer und körperlicher Prozesse im Prozess von Therapie und Beratung auseinandersetzen müssen, nicht nur in der psychosomatischen Medizin.


Nicht zuletzt zeigen die modernen cognitive sciences und die Metapherntheorie, dass der "Sinn", der in psychischen und sozialen Systemen prozessiert wird, ebenso wie auch die Sprache keine abstrakte, quasi rein symbolische Systemleistung darstellt, sondern immer schon verkörpert („embodied“) ist. Ohne unsere Körper mit ihrer spezifischen Organisation und Struktur hätten unsere sozialen und psychischen Systeme nicht nur eine andere Umwelt, sie existierten auch nicht einmal ansatzweise in dieser Form.


Die Grundlegung psychischer und sozialer Phänomene in unserer körperlichen Verfasstheit und der damit einhergehende Verzicht auf die Engführung auf Sprache erlauben vielleicht auch eine erweiterte Konzeption psychischer Systeme als bei Luhmann, für den psychische Systeme bekanntermaßen nur aus (bewussten) Gedanken bestehen. Wenn wir stattdessen davon ausgehen, dass psychische Systeme einen stetigen Strom kognitiver und affektiver Aktivitäten prozessieren, der nur zum kleineren Teil in bewussten Gedanken bzw. symbolischen “Repräsentationen" zum Ausdruck kommt, können unterschiedliche Theorien des Unbewussten, von aktuellen neurowissenschaftlichen Ansätzen bis hin zu hypnotherapeutischen Modellen systemtheoretisch anschlussfähig gemacht werden.