Totale Bemächtigung

Wenn Menschen andere Menschen fangen, um über sie verfügen zu können, so reagieren wir heutzutage verwundert und ungläubig: In Cleveland werden drei junge Frauen über Jahre gefangen gehalten, Frau Kampusch und die Fritzl-Tochter in Österreich... Wer weiß, wie viele solcher Gefangener in den Kellern unserer Nachbarn versteckt sind.


Irgendwie scheinen diese Fälle aus der Zeit gefallen. Dass man nicht weiss, was im Haus nebenan passiert, und die Nachbarn nicht alles mitkriegen, was in der eigenen Wohnung geschieht, ist ja erwartet und wird durch den gesetzlichen Schutz der Privatsphäre mehr oder weniger garantiert. Kaum zu gleuben, dass solche Beziehungsmuster auch heute noch realisiert werden: Man fängt sich - wie auf freier Wildbahn - einen anderen Menschen, den man de facto versklavt. Das erscheint genauso jenseits der Vorstellungskraft wie Kannibalismus. Archaisch. Atavistisch.


Denn die Formen der Machtausübung und Machtunterwerfung, an die wir heute gewöhnt sind, sind erheblich zivilisierter (d.h. ohne die direkte Gewaltanwendung durch Privatpersonen): Man wird nicht versklavt (passiv), sondern geht (aktiv) Tauschbeziehungen ein: Man verkauft sich, seinen Körper, seine Arbeitszeit, seine Lebenszeit, seine Kompetenz... - und das auch nicht total, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, sondern zeitlich begrenzt von 8 Uhr morgens bis 17 Uhr abends...


All das tut man - mehr oder weniger - freiwillig (soll heißen: Man hat Alternativen und könnte sich auch anders entscheiden).


Macht ist eben nicht gleich Macht. Mit Gewalt gezwungen zu werden - wozu auch immer - ist das Empörende... Und das von anderen Privatpersonen. Denn Zivilisation bedeutet (N. Elias), das Gewaltmonopol des Staates zu etablieren und zu akzeptieren. Daher erscheint es weit weniger empörend und schon gar nicht archaisch, wenn der Staat Leute einfängt und wegsperrt. Willkür des privaten Gefangenenwärters vs. Rechtmäßigkeit des Wärters im Staatsdienst (die Zügelung der Macht durch Verfahrensweisen vor Gericht etc.; das Gesetz, vor dem alle gleich sind, sorgt für die Begrenzung der möglichen Asymmetrie).


Letztlich das Erstaunen: Dass die sich das trauen - und dass das tatsächlich geht... - über Jahre. Ein Albtraum, die Vorstellung. Stephen King schreibt so etwas. Aber das sind Romane, Fiction. Denkt man.