Unsicherheitsabsorption

Um die aktuelle politische Entwicklung in vielen westlichen Ländern zu verstehen, scheint mir neben dem im letzten Blog thematisierten Bedeutungsverlust der Politik als Steuerungssystem der Gesellschaft ein zweiter Erklärungsansatz hilfreich. Er stammt aus der Organisationstheorie und ist dort entwickelt worden, um zu erklären, wie es gelingen kann, dass die Aktionen einer Vielzahl autonomer, innengesteuerter Individuen koordiniert werden bzw. sich koordinieren. Es gelingt, weil die Mitglieder von Organisationen bestimmte Prämissen für ihre Entscheidungen akzeptieren, die ihnen angesichts der Unsicherheit, unter der jeder handeln muss (die Zukunft ist immer ungewiss), Orientierung geben.


Das Konzept der Unsicherheitsabsorption kann m.E. auch auf politische Verhältnisse in einem Staat (BRD, Österreich, USA usw.) angewandt werden, und es kann erklären, warum Leute wie Trump attraktiv erscheinen, warum die Bedrohung der eigenen Kultur durch den Islam (oder was immer) so wichtig erscheint (Pegida), warum nach strengeren Regeln gerufen wird (was üblicherweise als Rechtsruck bewertet wird)...


Es sind vier verschiedene Typen von Entscheidungsprämissen:


1. Programme, die ziemlich eng vorgeben, was wann zu tun ist (Konditionalprogramme, die nach dem Prinzip wenn/dann funktionieren; Zweckprogramme, die im Sinne von um/zu funktionieren)


2. Kommunikationswege (d.h. formale oder informelle Strukturen, die festlegen, wer wen wann zu fragen hat bzw. wer wem wann was zu sagen hat)


3. Personen (damit ist nicht die Psyche von Menschen gemeint, sondern ihr Image, d.h. das Bild, das sich von ihnen öffentlich entwickelt)


4. Kultur (damit sind all die Spielregeln des täglichen Umgangs bezeichnet, die nicht zielgerichtet sind, sondern durch deren Beherrschung man zeigt, dass man dazu gehört, und die eng verbunden mit der persönlichen Identität der Mitglieder sind).


ad1: Mit der Globalisierung, aber auch schon in den Nach-68er-Jahren sind die zuverlässigen Spielregeln, die unsere westlich-kleinbürgerliche Welt ziemlich klar und eindeutig gesteuert (und eingeengt) haben, in Frage gestellt worden. Daher die Sehnsucht (z.B. der AfD) nach den guten alten Zeiten der 50er Jahre (na ja, wahrscheinlich nicht wirklich, aber auf jeden Fall nach Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit des öffentlichen Lebens).


Und wenn Horst Seehofer Frau Merkel verklagen will, dann tut er das, weil sie sich seines Erachtens nicht an die Gesetze hält (die ja ebenfalls als Programme im o.g. Sinne verstanden werden können).


ad2: Die Tendenz zum Autoritären ist die Hoffnung, durch klare Hierarchien (z.B. in Polen und Ungarn, aber auch in Erdogans Türkei) wieder die Unsicherheit durch klare Oben-unten-Beziehungen zu beseitigen. Da greift die Obrigkeit zu, die Gerichte werden zu Vollzugsorganen der Politik (die damit auch wieder in ihre Steuerungsrolle kommt, was allerdings dem Ideal der Gewaltenteilung zuwider läuft).


ad3: Personen, auf die man vertraut, sind ein altbewährtes Instrument der Unsicherheitsbeseitigung ("Wenn das der Führer wüßte!"). Trump scheint auf diese Karte zu setzten: Ein erfolgreicher Geschäftsmann wird die Karre aus dem Dreck ziehen. Auch Erdogan nutzt seine früheren Erfolge, um jetzt die Strukturen (Kommunikationswege) zu verändern.


ad4: Als letzter Punkt bleibt die Kultur. Wenn plötzlich viele Leute, die einer anderen Kultur zugerechnet werden, ins Land kommen, dann steht auch diese Prämisse zur Diskussion, was aufgrund ihrer eng mit der persönlichen Identität verbundenen Funktion dann den letzten Rest von Sicherheit nimmt und Angst um die eigene Identität (und damit soziale Existenz) erzeugen kann.


Diese vier Themen ließen sich über diese kleine Skizze hinaus natürlich noch weiter durchdeklinieren...


Die Frage, die sich aus alledem ergibt, lautet m.E.: Wie kann man in dieser Lage für Unsicherheitsabsorption sorgen, ohne auf die dümmlichen Vorwärts-in-die-Vergangenheit-Konzepte von FPÖ, AfD etc. zurück zu greifen. Denn die werden die Unsicherheit nicht beseitigen, sondern neue Krisen schaffen, schon deshalb, weil die letztlich auf Gewalt setzen müssen, um ihre Ideen umzusetzten... (Schießen an den Grenzen usw.)