Von der Systemischen Familientherapie zur Systemischen Physiotherapie

Sabine Mehne


In dieser Woche dürfen wir systemisch kehren und gehen davon aus, dass Sie von uns noch nicht so oft gehört oder gelesen haben. Hier unsere Vorstellung:


Livia Haupter leitet das Zentrum für Systemische Physiotherapie in Darmstadt. Sie ist also Physiotherapeutin, früher sagte man dazu Krankengymnastin, was mehr ist als Gymnastik mit Kranken, aber oft eben genau das. Sie lernte die systemische Denkweise bei mir kennen, als sie 1992 in meine damalige Praxis in Darmstadt einstieg und ich mich bemühte, familientherapeutische Gesichtspunkte in eine physiotherapeutische Behandlung einzubinden.


Ich bin auch Physiotherapeutin und wusste seit meinem 15. Lebensjahr, dass ich nur das werden wollte. Medizin kam nicht in Frage, weil ich die Menschen nicht heilen wollte, in dem ich sie operiere oder eben Blut fließen muss. Ich hatte die Vorstellung, das Heilen mit meinen Händen tun zu wollen - und wie sich später zeigte, konnte ich dies. So sehr ich meinen Beruf liebte, so sehr fehlte mir immer etwas. 1988 besuchte ich das Forum 20, organisiert von der IGST, und lernte Ernst von Glasersfeld mit seinem „Radikalen Konstruktivismus“ kennen. Ich war fasziniert und wusste was mir fehlte: Fundiertes Wissen zu Themen wie Kommunikation, Lernen, Erlebniswelten eines Individuums und wie funktioniert das menschliche Gehirn? Es ist nicht so, dass eine PhysiotherapeutIn davon keine Ahnung hat, aber es war mir immer zu wenig.


Voller Motivation meldete ich mich bei der IGST zur Ausbildung in Systemischer Familientherapie an, erhielt aber von Gunthard Weber eine Absage. Zu wenig therapeutische Fortbildung, meinte er, und eigentlich wäre ich als Physiotherapeutin nicht ausreichend qualifiziert. Ich ließ nicht locker, bildete mich fort, verhandelte erneut und wurde als Ausnahme zugelassen. So verbrachte ich mehrere Wochenenden als Ausnahme unter Ärzten und Psychotherapeuten in Heidelberg und lernte, wie ich Familiensysteme mit schweren Problemen beraten konnte. 1990 herrschte noch sehr viel mehr Freiheit als heute. Keine Gesundheitsreform - neue Ideen blühten überall auf und Arnold Retzer, der den Grundkurs leitete, stachelte mich schier an, unkonventionell zu denken. Ich bearbeitete meine Patienten fortan nicht nur manuell, sondern fütterte ihre Gehirne mit zirkulären Fragen und beobachtete, wie sich erstaunliche Erfolge einstellten.


Stück für Stück begannen Livia und ich das System Patient-Physiotherapeutin zu erweitern und zogen, wenn sinnstiftend, den jeweilig relevanten Kontext des Patienten als Ressource hinzu oder fragten, angeregt durch Insa Sparrer und Matthias von Kibéd, nach den guten Gründen für das körperliche Unwohlsein oder die Krankheit. Immer wieder dienten Keulen (Die Keule wurden in der PT als Gerät eingesetzt, den Bewegungsradius im Schultergürtel zu verbessern.), Bälle, Schuhe oder Stühle für Repräsentanten, um verborgene Konstellationen aufzuspüren oder neue Lösungen zu entdecken. Bisweilen erlitten wir Schiffbruch, weil wir zu viel auf einmal wollten und uns, unsere Patienten und KollegInnen überforderten. Bei Gunthard Weber und Fritz Simon erfuhren wir dann von der hohen Kunst des Navigierens beim Driften und wie erleichternd es sein kann, einen Unterschied zu finden, der auch einen Unterschied macht. Von Steve de Shazer lernten wir die kurzzeittherapeutischen Aspekte schätzen, denn Physiotherapeuten haben in der Regel nur zwischen 15 und 60 Minuten Zeit, um ihre Patienten zu unterstützen, ihren Zielen näher zu kommen. Als echten Qualitätssprung erlebten wir die Ausnutzung der therapiefreien Zeit und verordneten, mal paradox oder auch nicht, Hausaufgaben, die oftmals den inneren Schweinhund aus der Reserve lockten und Wirbelsäulen, Füßen oder andere Körperteilen zu ihren wahren Aufgaben verhalfen. Nebenbei staunten wir, was unsere Patienten auch ohne uns schafften und stellten schon beim Erstgespräch die Frage: „Was würden Sie tun, wenn es keine Physiotherapie gäbe?“


Die Neutralität, besser Allparteilichkeit erweiterte ebenso unseren Horizont, weil wir erlebten, wie es sein kann, wenn man nicht nur mit dem Patienten mitfühlt, sondern sich auch mal in seine operierte Halswirbelsäule hineinversetzt/Partei ergreift und bemerkt, was diese Körperteile/kleinsten Strukturen alles für einen Menschen leisten, incl. in diesem Fall auch dem jeweiligen Operateur. Oder hypothetisch zu ergründen, wie eine geplagte Ehefrau mit der Halbseitenlähmung ihres Gatten klar kommt. Sie merken, wir haben auch Spaß bei der Arbeit, der sich auf unsere Patienten überträgt. Lachen ist einfach eine der besten Formen der Atemtherapie.

Von Ingeborg Rücker-Emden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen lernten wir die Genderperspektive neu zu klären und fühlten uns, angesichts der Frauenlastigkeit in unserer Berufsgruppe angespornt, auch die eigenen Ziele, wie Wirtschaftlichkeit eines Kleinunternehmens, Arbeit im Team oder berufliche Erfolge ohne Scham und schlechtes Gewissen anzugehen. Helm Stierlin lernten wir als den Urvater der Familientherapie in Deutschland schätzen und damit gehört auch er zu den Wurzeln unseres neuen Selbstverständnisses.

Nicht vergessen möchten wir Gunther Schmidt, der uns half aus den Alltagstrancen auszusteigen oder sie für therapeutische Zwecke gezielt zu nutzen, und Milton Erickson, der den Nobelpreis verdient hätte, weil er nach einer Zungenlähmung eine Sprachtherapie entwickelte und sich nach zweimaliger Polio ohne Physiotherapeuten wieder bewegen und seine wunderbare Arbeit lange ausüben konnte!


Auch im Jahr 2006 werden wir immer wieder erstaunt gefragt, was Systemische Physiotherapie ist und wie das, bitte schön, funktionieren soll? Für uns ist das ganz einfach, weil wir die Systemische Familietherapie für den Kontext, in dem Physiotherapeuten arbeiten, übersetzten und heute ohne systemisches Denken und Handeln nicht mehr arbeiten können. Wobei ich an dieser Stelle hinzufügen möchte, dass ich seit geraumer Zeit nur noch beratend und schreibend im Zentrum tätig bin. Frau Haupter leitet neben ihrer Tätigkeit am Patienten auch Kurse in SYS PT, zeigt interessierten Zahnärzten ihre Arbeit oder hält Vorträge auf Tagungen.


In den nächsten Tagen stellen wir Ihnen Beispiele aus dem Arbeitsalltag, aber auch persönliche Erfahrungen vor. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen.