"Was wirkt?"

Livia Haupter


Um dem üblichen monokausalen Ursache-Wirkungsmechanismus Rechnung zu tragen und ihn dann im Laufe der physiotherapeutischen Behandlung umzudeuten, befrage und untersuche ich meine Patienten eingehend. Mögliche Erklärungsmodelle seitens der Patienten werden meist mit einer Verletzung, Entzündung oder „das ist kaputt“ mit der Stelle gleichgesetzt, an der der Schmerz empfunden wird. Ich werde häufig gefragt: „Was ist denn nun die Ursache für meine Beschwerden?“ Da meine Kompetenz in der Regel daran überprüft wird, inwieweit meine Einschätzung mit der Diagnose von anderen Respektspersonen (Orthopäden, Radiologen, Neurologen, Hausärzten) übereinstimmt, was sich bei genauerer Betrachtung systemischer Grundsätze nicht immer als hilfreich erweist, frage ich stattdessen „Was wirkt?“


Beispiel:

Frau M. kommt mit einer Verordnung über 6 mal Krankengymnastik in meine Praxis. Sie beschreibt verstärkte Schmerzen und Steifigkeit in der unteren Lendenwirbelsäule seit mehreren Monaten. Vor 4 Wochen wurde bei einer Computertomographie ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert. Erstaunlicherweise schränkt die Symptomatik Frau M. nur mäßig in ihrem Alltag ein. Seit vielen Jahren praktiziert sie intensiv Yoga und macht regelmäßig Kopfstand. Die physiotherapeutische Untersuchung ergibt eine erstaunlich gute Beweglichkeit der gesamten Wirbelsäule und keinen Kraftverlust oder andere neurologische Zeichen, die Vorsicht gebieten oder eine Kontraindikation für eine mechanische Therapie darstellen. Als Erkennungsmarker für Erfolg (siehe auch Bericht am Vortag) ist nur die endgradige Streckung der Lendenwirbelsäule im Stehen repräsentativ für ihre Beschwerden (=Testbewegung). Aus der Anamnese weiß ich, dass sie sehr überzeugt von der Anwendung des Kopfstandes ist. Auf meine Frage „Was wirkt?“, die ich in der Behandlung formuliere oder „Was macht Ihre Rückenschmerzen besser?“, antwortet Frau M. spontan und ohne nachzudenken „Der Kopfstand!“


Solch eine ausgefallene Antwort fehlte bisher in meinem Repertoire und ich überlege auf meiner inneren Metaebene. Es erscheint mir sinnvoller diese ungewöhnliche Eigenbehandlung zu nutzen, als zu argumentieren, dass es unmöglich sein kann, dass ein Kopfstand bei einem Bandscheibenvorfall wirkt.

Nach einer kurzen Pause antworte ich: „Das klingt interessant. Dann schlage ich vor, das, was Sie selbst bereits als probate Eigenbehandlung herausgefunden haben, als optimale Therapie für ihren Rücken zu nutzen. Welche Hilfsmittel benötigen Sie für einen Kopfstand und wie lange müssen Sie zu Hause Kopf stehen, damit es Ihnen wie lange besser geht?“

(Ich empfehle natürlich nicht grundsätzlich den Kopfstand als Eigenbehandlung und bitte Sie, sollten Sie Rückenprobleme haben, nicht gleich im Anschluss diese Variante an sich auszuprobieren, befragen Sie in jedem Fall vorher Ihren Arzt, Apotheker oder PhysiotherapeutIn!)

Frau M: „Ein Kissen und 2 Minuten reichen, damit es mir die nächsten Stunden besser geht.“

Ich: „Sind Sie damit einverstanden, zuerst die Testbewegung durchzuführen (bei Frau M. ist die Testbewegung, die ihre Beschwerden am ehesten repräsentiert, den Rumpf nach hinten zu bewegen), dann einen zweiminütigen Kopfstand hier auszuüben und anschließend erneut die Testbewegung zu machen und das Ergebnis zu bewerten?“

Ich beobachte ein siegessicheres Strahlen im Gesicht von Frau M. und höre ein flottes okay.


Nach gemeinsamer Abwägung möglicher Kontraindikationen und der Verbesserung und Unterstützung bei der Durchführung des Kopfstandes war ich selbst verblüfft, wie viel leichter und mit wie viel weniger Schmerzsensationen die Rumpfbeuge nach hinten möglich war. Der nächste Schritt bestand darin eine Bewegung zu finden, die eine ähnliche Wirkung wie der Kopfstand erzielen würde, und damit im Büro oder unterwegs durchführbar wäre.


Ich kann unterschiedliche Erklärungsmodelle anbringen, weshalb der Kopfstand in dieser Situation wirkt – aber wozu? Stattdessen möchte ich an Steve de Shazer erinnern, der mich lehrte nichts reparieren/verändern zu wollen, wenn etwas/es gut funktioniert.