Wir sind das Volk?

In einer kleinen Studie mit dem Titel "What is Populism?" (gibt es auch auf Deutsch) analysiert Jan-Werner Müller (Prof. in Princeton) die Wirklichkeitskonstruktionen (er nennt es nicht so), die von Populisten angeboten werden und mit deren Hilfe seines Erachtens Populismus zu definieren ist. Er lehnt die sozialpsychologischen Erklärungen (m.E. nur zum Teil zu Recht, denn diese Wirklichkeitskonstruktionen sorgen in ihrer kognitiven Schlichtheit für die Möglichkeit, dass sie von vielen Leuten übernommen werden) ab und fokussiert seine Aufmerksamkeit auf die leitenden Unterscheidungen mit denen gearbeitet und argumentiert wird.


Zentral ist die Polarisierung, eine Spaltung in Volk vs. Nicht-Volk. Dabei wird diese Abgrenzung intern vollzogen, d.h. innerhalb der Bevölkerung eines Landes, und extern, d.h. gegenüber Außenfeinden oder -gegnern. Innerhalb wird meist gegen die "Eliten", d.h. die Machthaber gekämpft (allerdings nur, solange man nicht selbst an der Macht ist), extern gegen den, der gerade verfügbar ist.


Aber das reicht nicht, denn es wird der Anspruch erhoben, für das Volk zu sprechen, und damit wird all das, was gefordert wird, moralisch (!) legitimiert. Es wird die moralische Einheit "des" Volkes suggeriert, und wer nicht einverstanden ist, gehört daher qua definitionem und Moralurteil nicht zum Volk, d.h. er kann auch schlecht behandelt werden, weil das Volk sich ja gegen die moralisch Schlechten verteidigen muss.


Wenn sie dann an der Macht sind, bilden Populisten "natürlich" keine Elite, auch wenn sie alle einflußreicheen Stellen mit "ihren" (nur das Volk vertretenden) Leuten besetzen und das Rechtssystem und die Presse in ihrer Funktion zu beschneiden versuchen, denn sie vertreten ja die "wahren" Interessen des Volkes.


Um dies zu verdeutlichen, brauchen wir nur auf die aktuellen Populisten zu schauen. Ein gutes Beispiel ist m.E. Erdogan. Er hat als Underdog intern zunächst gegen die Kemalisten gekämpft (zusammen mit den Gülenisten), dann hat er, als er an der Macht war, die Gülenisten in alle möglichen Posten gehievt, um sie dann nach dem Putschversuche radikal wieder von dort zu entfernen. An internen Feinden hat er auch noch die Kurden, die er immer wieder ins Spiel bringt, wenn er innenpolitisch unter Druck gerät. Dass er die Deutschen als Nazis oder auch die Europäer, USA, wen immer, als Außenfeind nach Bedarf zu Einigung des Volkes nutzt, ist auch unübersehbar. Die Presse wird kalt gestellt, indem kritische Journalisten als Spione oder Terroristen in den Knast geworfen werden, die nicht auf seiner Linie entscheidenden Richter werden entlassen.


In Polen und Ungarn wird das gleiche Schema praktiziert...


Matteo Salvini, der am Wochenende unter Druck geriet, weil die Staatsanwaltschaft von Agrigent gegen ihn wegen Freiheitsberaubung ermittelt - aufgrund der Tatsache dass er ca. 170 Menschen auf dem Schiff "Diciotti" der Küstenwache nicht an Land gehen liess -, sagte auf einer Parteiversammlung (sinngemäß):

"Mögen sie kommen und mich verhaften. 60 Millionen Italiener wollen Veränderung..."

Der Anspruch ist jeweils, klassisch populistisch, für das "ganze" Volk zu sprechen (was man logischerweise nur dann tun kann, wenn man allen, die nicht mit der eigenen Meinung einverstanden sind, abspricht, zum Volk zu gehören). Es ist also immer auch Identitätspolitik, die da betrieben wird. Ausgrenzend und/oder eingrenzend.