Gerechtigkeit, Umverteilung, soziales Gleichgewicht und andere Dilemmata

Soll man Flüchtlinge aufnehmen oder nicht? Soll man sie gar schon in Nordafrika abfangen? Und auf was lassen wir uns da ein, wenn wir jeden reinlassen? Wann kippt unser Boot?


Statt eines Faktenchecks, der in den Trumpschen Zeiten so en vogue ist, erlaube ich mir (m) einen Urlaubscheck.


Vor vielen Jahren, als wir noch mit dem Auto nach Afghanistan und Indien fahren konnten, sah ich mich in Indien, vor allem an den Busbahnhöfen mit einer unüberschaubaren Anzahl von Kranken, Krüppeln und Bettlern konfrontiert. So weit das Auge reichte. Kaum angekommen wurde ich, was ja nicht gerade schwierig war umgehend als ein Nicht-Inder erkannt. Sofort richteten sich alle Augen und ausgestreckten Arme in meine Richtung, verbunden mit diversen nicht zu verstehenden verbalen Äußerungen. Aber es war klar, man erhoffte sich von mir ein zu erwartendes Geldgeschenk. Man begann sich unter dem Busfenster, aus dem ich blickte, so zu drängeln, dass ich Angst hatte, man würde sich erdrücken.


Ich konnte mich diesem schrecklichen Anblick und dieser Szenerie nicht entziehen. Ich suchte nach einigem Kleingeld, um es in unterschiedliche Hände zu legen. In der (trügerischen) Hoffnung, meine Seele würde wieder Ruhe finden. Nichts von alledem. Die Anzahl der Hände wuchs noch mehr an, noch mehr Menschen kamen von überall her.


In jedem Busbahnhof geschah dasselbe. Schließlich begann sich etwas in mir zu sträuben. Ganz überraschend durchfuhr mich die in mir schlummernde Panik, wenn ich so weitermachen würde, hätte ich bald selbst kein Geld mehr. Zwar hatte ich nicht die Sorge, selbst betteln zu müssen und doch fühlte ich mich so, als würde ein solcher Zustand über mir hereinbrechen können.


Tage später bestätigte mir ein Deutscher, der schon lange in Indien lebte, dass dies ihn überhaupt nicht verwundern würde.


Was aber tun? Wie auf die unfassbare Not der Menschen reagieren? Wie den Menschen in die Augen schauen und an ihrer Armut vorbeisehen? Wie konnte ich mit mir seelisch im Gleichgewicht bleiben? Sofort abreisen kam für mich nicht in Betracht. Mich hart machen, konnte ich nicht vor mir selbst rechtfertigen.


Wiederum Tage später besuchte ich in den Nilgiris, das sind Berge im Süden Indiens, Teeplantagen und eine Missionsstation. Dort wurde ich herzlich empfangen. Dort spielte vor dem Wohnhaus ein blinder Mann auf seiner indischen Orgel. Natürlich sprachen wir  beim Abendessen über diesen Mann. Die Missionare sagten, dass der Mann blind sei und durch das Orgelspiel seine Familie ernähren würde. Da er sich selbst keine Orgel hätte leisten können, bezahlte man dem Mann zur Hälfte die Orgel.


Am nächsten Tag war mir klar, was ich zu tun hatte. Ich spendete die zweite Hälfte der Anschaffungskosten, damit der blinde Inder von nun an, ohne Schulden seine Familie versorgen konnte.


Natürlich sah ich beim nächsten Busbahnhof wieder die unzähligen Inder. die Kranken, die Krüppel und die Bettler. Von nun gab ich aber  nur noch in besonderen Fällen etwas Geld. Von nun an plagte mich aber kein schlechtes Gewissen mehr.


Von nun an akzeptierte ich diesen oder einen ähnlichen Zustand und meine getroffene Entscheidung. Natürlich im klaren Bewusstsein über die Not der Menschen. Und natürlich spüre ich noch den Schmerz, in die Gesichter dieser Menschen zu schauen.