"Vor Aufregung" war keine Aufregung, oder: wie man sich über die Kanzlerische Berührung viral echauffiert

Merkel steht sichtlich überrascht vor weinender palästinensischer Schülerin. Geht zu ihr, lässt sich vom Moderator davon nicht abbringen. Mit den Worten "Streicheln darf ich sie doch noch" berührt sie die junge Schülerin um ihr Trost zu spenden. Ihre Wortwahl war dabei wohl eher etwas holprig-hölzern. Gesprochen hat sie, was man von ihrer Rolle erwarten kann, sachlich klar und nüchtern wirkend. Überraschung und berührende Geste hingegen waren sichtlich persönlich. Insoweit handelte Merkel in ihrer Rolle als Kanzlerin korrekt und menschlich nah.


Das kurze Video wurde in kürzester Zeit zur viralen Sensation. Einerseits wurde es im rasenden Tempo durch alle Netzwerke gejagt. Andererseits entfachte es unter #Merkelstreicheln einen Shitstorm riesigen Ausmaßes. Nur ein Beispiel als Zitat aus dem Tagesspiegel, der einen Shitstormer zitiert bezugnehmend auf Adorno und Horkheimer: „Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand hier kann vernichten.“ Der Satz ist im Jahr 1944 aufgeschrieben worden. Nicht schwer zu erraten, wem er galt. Weitere Kommentare erübrigen sich von selbst.


Was ist da passiert könnte man sich fragen? Warum gibt es tags drauf noch mehr Aufregung darüber, dass es im Pressetext der Regierung anfangs noch hieß, dass das Mädchen aus voller Aufregung weinte, um dann in geänderter Form nur als weinendes Mädchen dargestellt wird.


Ist man nicht aufgeregt, wenn man weint? Oder haben die Kritiker verlernt, so etwas selbst zu spüren? Oder sich selbst durch einen solchen Anblick selbst berühren zu lassen? Wie sieht denn Weinen ohne Aufregung, ohne innere Erregung aus?


Merkel ist nah am Menschen dran. (Wenn ich so etwas sage, beziehe ich mich nicht auf Merkels politische Aussagen. Das ist ein anderes Spielfeld.) Schon seit langem stellt sie eine Projektionsfläche für viele Menschen dar, die sich gerade eine solche Politiker-Person-Mischung wünschen. Mutti lässt grüßen. Jetzt muss ich auch Mutti mal in Schutz nehmen. Wenn Medien schreiben, dass Merkels Auftritt bei solchen Bürgerveranstaltungen oftmals nicht gelingen würde, dem seien Merkels Beliebtheitszahlen entgegen zu halten. Beliebtheitszahlen, die gerade auch durch die Konstanz in der Höhe bestechen:



  • sie hat als Politikerin und Mensch in sich stimmig und passend in der Situation reagiert.

  • sie hat hierdurch die Menschen erreicht, die sich bislang öffentlich nicht groß zur Situation von Ausländern in Deutschland geäußert haben. Im Unterschied zu der lautstarken und Gewalt bereiten Rechten sowie denjenigen, die mit allem nichts zu tun haben wollen und darauf hoffen, dass andere das schon regeln würden, hat Merkel gezeigt, dass man manchmal auch seine Berührungsängste dem Fremden, den Fremden gegenüber über Bord werfen solle.

  • schließlich hat sie durch ihre Berührung in einem emotional bewegenden Moment, etwas gemacht, das in Deutschland inzwischen nicht selten verlernt wurde. Haben doch immer mehr Menschen Angst vor Berührung, Angst vor emotionaler Begegnung - sei es auch in einem politischen Kontext, wie einer solchen Bürgerveranstaltung. Vielleicht könnte man bei einigen der Shitstormer ja gar eine Berührungsphobie vermuten.


Wer berührt denn schon, so frage ich mich, in seinem Alltag einen Fremden? Aber, so könnte man sich auch fragen, was wäre dann mit der eigenen Aufregung? --- Also aufgepasst. :-)


 


(weitere Ausführungen unter http://www.stern.de/politik/deutschland/merkel-und-weinendes-fluechtlingsmaedchen--das-sagt-ein-experte-fuer-koerpersprache-6348814.html)