Was hat die Physik mit Vater-Himmel und Mutter-Erde zu tun?

Seit einiger Zeit macht eine Frau aus Mali, die einen Asylantrag gestellt hat, in einem uns bekannten Geschäft ein Praktikum. Diese Frau, verheiratet, hat drei Kinder und kann inzwischen sehr gut Deutsch. Ohne jemals einen Deutschkurs besucht zu haben. Sie ist sehr neugierig und wissenshungrig. Wenn sie etwas hört, was sie noch nie gehört hat, fragt sie gleich nach und wiederholt das Gesagte mehrmals, um es dann kurze Zeit später gleich selbst anzuwenden. Und sie ist tatsächlich sehr gut darin.


Jüngst hörte ich sie mit der Geschäftsinhaberin darüber sprechen, wo das Wasser denn herkäme. Ihr war völlig klar, dass man Wasser aus dem Niger nimmt. Dort, wo sie bis vor kurzem noch gelebt hatte, gab es nur Lehmhütten, natürlich kein fliessendes Wasser. Und wenn man Wasser brauchte, ging man runter zum Fluss. Oder man zelebrierte etwas, was wir vielleicht als Gebet bezeichnen würden.


Die Geschäftsinhaberin erklärte ihr in einfachen und verständlichen Worten den Vorgang, wie es zur Verdunstung kommt, sich Regenwolken bilden, die dann abregnen. Das Wasser würde im Boden versickern und irgendwo als Quelle zu einem Bach  dann zu einem Fluss werden. Ich fand es bewundernswert wie die Frau Physik zum Anfassen beherrschte.


Spätestens ab diesem Moment standen sich Physik und afrikanischer Mythos vom Entstehen des Wassers gegenüber.


Die Frau aus Mali hatte aber die Geschäftsinhaberin mit so erstaunten Augen angesehen, als diese von der Wolkenbildung am Himmel berichtete. Sie konnte es nicht nur nicht glauben, konnte sich diesen Vorgang auch gar nicht vorstellen. War der Himmel in Mali doch symbolisch traditionell emotional und kulturell völlig anders besetzt, als es die Physik zu erklären bereit war.


Der Himmel steht bei vielen Ethnien Afrikas für den Vater und die Erde für die Mutter. Von Himmel und Erde zu sprechen, kann dann emotional Gedanken von Zeugung und Geburt wachrufen, ganz unbewusst und wie selbstverständlich. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Geburt des Wassers dem Zusammenspiel von Vater-Himmel und Mutter-Erde zugeschrieben wird.


Ich will hier keine große Erörterung über ethnische Symbolik oder ähnliches starten. Bin ja auch kein Afrika-Kenner. Frage mich aber, was solche Erfahrungen und die Berührung solcher kulturell und traditionell geprägter Erfahrungsräume für die Integration von Flüchtlingen heißen mag.  Wissen ist ja gut und wichtig. Erklärungen und die Illustration von Zusammenhängen dürfen nicht fehlen.


Zwar habe ich keine kulturellen Erfahrungen in Afrika, wohl einige seit einigen Jahren in China. Dort ist der sichtbare kulturelle Unterschied vielleicht nicht so groß wie zu einem Dorf in Mali. Und doch ist mir dort unmissverständlich klar geworden, wie sehr wir geprägt sind durch unterschiedliche Modalitäten von Erfahrung. Erfahrung ist nicht gleich Erfahrung. Aber wem sag ich das hier. :-)


Zurück zur Frau aus Mali in dem Bochumer Geschäft und ihren Grundkurs in Physik. Das, was die Geschäftsinhaberin ihr erklärte, hat sie bestimmt in sich aufgesogen, wie all die anderen Dinge, die ihr erklärt wurden. Das ist die, man könnte sagen, Integrationspflichtübung.


Die Kür bei der Integration aber war die Art und Weise wie die beiden Frauen sich in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptieren, bestaunen und respektieren konnten. Ganz naiv, ganz liebevoll, ganz beflissen und ganz nüchtern direkt. Eben ungeschminkt aufrichtig.


Und doch gab es da, wenn man nicht ganz so eng draufschaut im Wesentlichen eine Übereinstimmung: Was für die Afrikanerin die Geburt des Regens ist, ist für uns im Westen die Entscheidung den physikalisch erklärbaren Wasser-Kreislauf von einer bestimmten Perspektive zu betrachten. Man kann dies tun, indem man die Quelle, oder die Verdunstung oder die Regenbildung in den Wolken usw in zuvörderst in das Zentrum der Betrachtung stellt. Tut man dies, so könnte man dies vielleicht gar als Geburt bezeichnen. Als einen Moment, in dem etwas zu leben beginnt. Für die Frau aus Mali wares dann das Wasser in Form von Regen. Für die Geschäftsinhaberin war es vielleicht die Entscheidung den Wasser-Kreislauf mit dem Phänomen der Verdunstung oder dem Versichern im Boden oder mit der Wolkenbildung zu beginnen.


Dies geschah ohne den Versuch, die andere ändern zu wollen. Und dabei wurde schon so viel anders. Übrigens ohne dass die beiden Frauen über die afrikanische Symbolik von Vater-Himmel und Mutter-Erde wussten oder gar darüber geredet hätten.


Und dabei, wenn ich es mir in Ruhe vor Augen führe, waren die beiden Frauen sich eins.