Zwischen Erleben und Handeln – oder: die systemische Haltung

Fritz B. Simon hat in seinem Blog „Systemische Kehrwoche“ ein fragendes Statement der Leserin Gitta Peyn veröffentlicht (https://www.carl-auer.de/blogs/kehrwoche/frage), das sich auch an die systemische Soziale Arbeit richtet. Frau Peyn geht es um die Problematik, dass die Systemtheorie eine grundsätzliche Offenheit der Weltwahrnehmungen beschreibt und erklärt; denn diese ist für die Systemtheorie veränderbar durch die Art und Weise, durch die Unterscheidungen, die wir bei der Betrachtung der Welt zugrunde legen. Im Gegensatz dazu steht, dass viele Menschen an der Welt, insbesondere auch an den sozialen Wirklichkeiten, die in der Gesellschaft in diversen Weisen in unterschiedlichen Systemen produziert werden, leiden. Viele Menschen seien zudem nicht in der Lage, diese Wirklichkeiten oder ihre entsprechenden Wahrnehmungen zu verändern, anders zu konstruieren. Sie erleben sich ausgeliefert, fremden Mächten unterworfen, denen sie nichts entgegensetzen könnten.


Frau Peyn fragt: „Auf dem Hintergrund der aktuellen Probleme – gibt es nicht mehr, das getan werden kann auch von Seiten der theoretischen Wissenschaft, damit die Menschen sich leichter und mit mehr Freude im komplexen Spiel in der Gesellschaft bewegen können? Müsste nicht gerade aus Richtung der Systemtheorie der Impuls zu mehr Verständnis kommen?“


Zwei meiner Antworten auf das fragende Statement von Frau Peyn lauten:


Erste Antwort: Zunächst scheint es um das Verhältnis von Erleben und Handeln zu gehen. Das Erleben wird offenbar als übermächtig empfunden, von fremden Mächten, unbeeinflussbaren Faktoren ausgehend. Dabei erscheint das eigene Handeln als wirkungslos. Eine Aufgabe systemischer Sozialer Arbeit ist es, Menschen in vermeintlich ausweglosen Situationen dabei zu unterstützen, die Wirkmächtigkeit des eigenen Handelns wiederzuentdecken. Und dabei darf die Soziale Arbeit nicht in die Falle tappen, dass sie – dauerhaft bzw. über einen längeren Zeitraum – für die Menschen handelt, die sich als handlungsunfähig sehen. Wenn sie dies nämlich macht, verstärkt sie, was sie verändern will: die Handlungsunfähigkeit ihrer Adressatinnen und Adressaten. Vielmehr sollten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wertschätzende Beziehungen aufbauen, in denen sie dann die Vielfalt der systemischen Methodik (etwa die lösungsorientierte Gesprächsführung) nutzen können, um ihre Adressatinnen und Adressaten so anzuregen, dass diese allmählich wenigstens kleinste Ansätze ihrer Handlungsfähigkeit wieder entdecken – trotz aller gravierenden und existenziellen Probleme, die ihr Leben belasten.


Zweite Antwort: Noch wichtiger als die professionellen Beziehungen, die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter anbieten können, scheint mir der stetige sozialarbeiterische Versuch zu sein, die Menschen dabei zu unterstützen, dass sie eigene lebensweltliche Unterstützungsbeziehungen wieder entdecken, in neuer Weise nutzen oder erst für sich kreieren. Mein Potsdamer Kollege Frank Früchtel (http://www.fh-potsdam.de/person/person-action/frank-fruechtel/show/Person/?no_cache=1) spricht in diesem Zusammenhang von einer restaurierenden Sozialen Arbeit oder von einer relationalen Praxis. Diese Soziale Arbeit versteht sich nicht mehr als Löserin von sozialen Problemen, sondern bietet eine gänzlich andere Sichtweise an, gewissermaßen eine radikale Umdeutung: Probleme gilt es nicht zu beseitigen, sondern als Anlässe für gemeinschaftsbildende Prozesse zu sehen. Professionelle Problemlösungsversuche scheitern ohnehin häufig, verstärken die Probleme oder produzieren zahlreiche unerwünschte Nebenfolgen. Daher könnten Probleme vielmehr gesehen werden als Möglichkeiten, dass Menschen sich in den Lebenswelten in neuer Weise finden, dass sie zusammen kommen, dass sie sich wechselseitig unterstützen, dass sie das wieder etablieren, was den Kitt der Sozialität erst ausmacht: eine Gegenseitigkeit des Handelns, ein Geben und Nehmen im sozialen Austausch. Probleme werden so zu Anlässen, das lebensweltlich Soziale, das sich jenseits der „großen“ Funktionssysteme mehr und mehr verflüchtigt, wieder entstehen zu lassen.