Die EU und Chinas „Belt and Road Initiative“ – Multi-Resilienz als Leitbild für eine komplexitätsangemessene Weltordnung im aktuellen Wettbewerb um Diskursmacht über „Globalisierung 2.0“?
Vorabbemerkung:
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in dieser Publikation zum Teil die männliche Sprachform verwendet.
Dies bedeutet keine Benachteiligung des weiblichen und diversen Geschlechts,
sondern ist im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen.
Die Globalisierung verändert ihr Gesicht. Unter den vielen aktuellen Entwicklungen, wie sie von Beobachtern wie dem Globalisierungsforscher Benedikter skizziert wurden (ders. 2021), werden zwei Trenddimensionen die Post-COVID-Welt und die Zukunft der Globalisierung wohl in besonders kritischer Weise beeinflussen: Erstens hat China im Rahmen des „Systemwettbewerbs der Modernen (Jaques 2012)“ und der allgemeinen Wahrnehmung, dass das 21. Jahrhundert Asien gehört (Khanna 2019) den Westen in der Debatte um die Frage, wie internationale Politik im Rahmen einer zunehmend komplexen und multipolaren Zukunft (neu) organisiert werden kann (das Stichwort ist: „Globalisierung 2.0“), zunehmend verdrängt. Dies mag durchaus auf den Umstand zurückzuführen sein, dass Chinas außenpolitische Strategie, insbesondere die „Belt and Road Initiative“ (BRI) konsequent Prinzipien des systemischen Denkens anwendet und sich damit als strategisch effektiver, da komplexitätsfähiger ist. Zweitens führt, wie zuletzt die Corona-Krise gezeigt hat, die zunehmende globale Verflechtung dazu, dass die internationale Gemeinschaft, aufgrund von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz (VUKA), noch stärker vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt ist. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, über das relativ neue Konzept gesellschaftlicher „Multi-Resilienz“ nachzudenken und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens sind Gesellschaften mehr denn je gefordert, auf viele Krisen gleichzeitig zu reagieren; zweitens könnte Multi-Resilienz einen attraktiven Anreiz zur Förderung dringend notwendiger internationaler Zusammenarbeit liefern; drittens könnte der Westen, insbesondere die EU, im Rahmen dieses Konzepts eigene Akzente im Diskurs um die Gestaltung von Globalisierung 2.0 setzen und damit zu einer krisen- und komplexitätsfähigeren Weltgemeinschaft beitragen.
1. China als aufsteigende Supermacht im Globalisierungsdiskurs aus systemischer Perspektive: ein Resultat strategisch-systemischen Denkens?
Chinas „Belt and Road Initiative“ (BRI) umfasst Infrastrukturentwicklung und Investitionen in 70-150 Ländern weltweit (GTAI 2021). Angestrebter Fertigstellungstermin des Projekts ist das Jahr 2049 (Godehardt/Kohlenberg 2017), was mit dem 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik China zusammenfällt. Während die aufstrebende Supermacht eine für viele Gesellschaften durchaus ansprechende wachstumsbezogene Vision bietet, hat die westliche Welt es weitgehend versäumt, ansprechende Alternativen oder ergänzende Ansätze innovativer multilateraler Zusammenarbeit zu entwickeln. Derzeit kann die BRI als eines der einflussreichsten Konzepte betrachtet werden, die den heutigen Diskurs über „Globalisierung 2.0“ prägen (ebd.).
1.1. Exkurs: Kurzer Überblick über die aktuellen Beziehungen der USA und EU zu China
Das Verhältnis des Westens, vor allem der USA und EU, mit China lässt sich als ambivalent bezeichnen. Bereits unter dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama verlagerte sich der Schwerpunkt der Außenpolitik der USA von der nahöstlichen, atlantischen und europäischen Sphäre nach Ostasien und in den Pazifik (Benedikter 2012). Dies kommt am besten in Obamas Regionalstrategie „Pivot to East Asia“ (Bush 2012) zum Ausdruck, zu deren zentralen Handlungsfeldern die Vertiefung der Arbeitsbeziehungen mit aufstrebenden Mächten, allen voran China, die Stärkung bilateraler Sicherheitsallianzen und die Förderung von Demokratie und Menschenrechten gehören (Perlez 2012). Während Donald Trumps Präsidentschaft (20.01.2017-20.01.2021) hatten sich die Außenbeziehungen der USA zu China sowie zur EU, durch die Einführung von Zöllen und anderen Handelsbarrieren auf Waren Chinas, der EU, Kanadas und Mexikos signifikant verschlechtert (Long 2018; Swanson 2018).
Zu China unterhält die EU ein insgesamt konstruktiveres und tieferes Verhältnis. Im Gegensatz zu den USA sind mehrere EU-Länder bereits über diverse bilaterale Abkommen oder von China geführte multilaterale Initiativen wie die „16+1-Initiative“ (einschließlich 11 EU-Mitgliedern) und die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) in die BRI eingebunden. Es gibt noch kein Freihandelsabkommen zwischen China und der EU als Ganzes, da die EU darauf besteht, vorher ein Investitionsabkommen zu schließen. Allerdings ist in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg des Handels und der Investitionen zwischen einzelnen EU-Ländern und China zu beobachten. So ist beispielsweise das deutsche Außenhandelsvolumen mit China zwischen 2008 und 2018 um 80% gestiegen (Schmitt 2019). Chinesische Investitionen in Infrastrukturprojekte haben vor allem in 14 Ländern Süd- und Osteuropas zugenommen, darunter Italien mit der größten chinesischen Gemeinde in Europa und strategisch wichtigen Häfen im Mittelmeer, Portugal, Griechenland, Ungarn und Polen (Frese 2019), wobei China in letzter Zeit auch auf Nicht-EU-Länder auf dem Balkan zugeht, die EU-Mitglieder werden könnten (Bosnien, Serbien, Montenegro). Kritische Beobachter betonen, dass Chinas Praxis, Infrastrukturkredite ohne klare Bedingungen zu vergeben, dem EU-Integrationsprozess in der Balkanregion widerspricht, da ein EU-Beitritt an verschiedene Voraussetzungen, wie z. B. demokratische und gute Regierungsführung gebunden ist, die für das autokratische China keine Parameter sind, was auf einen „Clash of Systems“ hindeutet. Aber auch innerhalb der EU-Zone wird Chinas Ansatz kritisiert, die EU zu spalten, da südliche Mitgliedsländer wie Griechenland, Portugal und Malta chinesische Kredite nutzen, um ihre von der Euro-Krise betroffenen Volkswirtschaften zu konsolidieren, wobei chinesische Investitionen in direkter Konkurrenz zu regulatorischen EU-Programmen stehen. In der Folge blockieren diese Länder zunehmend politische EU-Entscheidungen im chinesischen Interesse und verhindern eine gemeinsame europäische chinakritische Position zu einzelnen Themen, wie Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit (Schüller/Schüler-Zhou 2015).
1.2. Win-Win-Kooperation oder Bedrohung? Über die hohe Eigenkomplexität der BRI
In der Auseinandersetzung mit der chinesischen Außenpolitik, insbesondere der BRI, fällt eine eindeutige Positionierung nicht leicht: Ist die BRI eine Bedrohung für den Westen oder eine Strategie zu internationaler Win-Win-Kooperation?
Fürs Letzteres spricht, dass die BRI als eine Vision für die Entwicklung eines umfassenden eurasischen Netzwerks gedacht ist, das die wirtschaftliche, kulturelle und politische Konnektivität und Kooperation zwischen Ländern, Regionen und Städten entlang der Seidenstraße fördert. Optimisten argumentieren, dass die BRI aufgrund ihrer Konnektivität und Inklusivität einerseits und ihrer Offenheit und Flexibilität andererseits weitgehend zu einer friedlichen Win-Win-Kooperation für die meisten betroffenen Länder führen würde. Wie in einem offiziellen EU-Bericht vom März 2015 hervorgehoben wird, wird die BRI auf Grundlage dieses Narrativs und in Anlehnung an die offizielle chinesische Regierungsrhetorik als vorteilhaft für Menschen und Länder auf der ganzen Welt wahrgenommen (Lang 2015; Zhang 2018). Wirtschaftsanalysten (z. B. von der Weltbank) betonten, dass die BRI, wenn sie vollständig abgeschlossen ist, die Handelsströme zwischen den 71 direkt teilnehmenden Korridor-Volkswirtschaften zwischen bis zu 2,7 % und 9,7 % steigern soll. Darüber hinaus gehen sie von einer Steigerung des Einkommens um bis zu 3,4 %, einer Befreiung von ca. 7,6 Millionen Menschen aus der Armut und einer Verkürzung der Reisezeiten entlang der Wirtschaftskorridore um 12 % aus (The World Bank 2018; Baniya et al 2019). Der offizielle Leitgedanke, die Zusammenarbeit zwischen den Ländern entlang der Seidenstraße zu entwickeln und zu stärken, wird von einer populären Beschreibung des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang aufgegriffen. Ihm zufolge ist für eine erfolgreiche geopolitische Sicherheitsstrategie „die Maximierung der Kooperation noch wichtiger als die Minimierung von Konflikten, da die erstere die letztere einschließt, die letztere aber die erstere nicht einschließt“ (Tingyang 2009: 106, zitiert in Godehard 2016: 12). Laut Godehardt spiegelt diese Aussage den friedensfördernden Aspekt von Chinas BRI-Vision wider, die sich vor allem auf gemeinsame Vorteile und wirtschaftliche Möglichkeiten konzentriert und weniger auf Sicherheitsbedrohungen und Schwierigkeiten. Godehardt betont außerdem den offenen und flexiblen Charakter der BRI, der jedem Mitglied die Möglichkeit gibt, an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken. Diesen pro-positiven Stimmen zufolge zeigt sich der Charakter der Offenheit daran, dass die chinesische Führung noch immer keine offizielle BRI-Karte veröffentlicht hat. So könne die BRI nicht als „Grand Strategy“ verstanden werden, die sich als Gegenmodell zur etablierten internationalen Ordnung und ihren Mechanismen, Regeln und Werten präsentiert (Godehardt 2016; Godehardt/Kohlenberg 2017).
In der Tat wird der flexible und zugleich konkurrenzfähige Charakter der BRI auch dadurch unterstrichen, dass sie das regelbasierte eurozentrische Modell der internationalen Ordnung und seine bestehenden Institutionen und laufenden Projekte ergänzt, z. B. durch die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) oder Chinas Unterstützung für die russische Initiative der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU). Die BRI-Kooperation könnte also gleichzeitig in parallelen Arrangements stattfinden, einschließlich multilateraler Mechanismen und bilateraler Beziehungen. Aus offizieller chinesischer Sicht wäre es kein Problem, wenn sich Arrangements und Zugehörigkeiten von Akteuren überschneiden. Nehmen wir zum Beispiel den Fall Polens, das Mitglied der EU, der chinesischen 16+1-Initiative und der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) ist und zunehmend bilaterale Beziehungen zu China und der BRI aufbaut. Aus Sicht Chinas müssen sich die Akteure also nicht zwischen verschiedenen Mechanismen entscheiden, auch nicht, wenn diese Mechanismen auf sehr unterschiedlichen Regeln, politischen Systemen (wie autoritären, diktatorischen oder demokratischen Systemen) oder Interessen beruhen. So baut die BRI systematisch auf unterschiedlichen Interessen und Kapazitäten auf und untergräbt eine klare gemeinsame globale Ordnung. Dahinter steht die Annahme, dass eine Win-Win-Kooperation nicht die Bedingung der Parität voraussetzt, sondern auch bei ungleich verteilten oder asymmetrischen wirtschaftlichen Anteilen Win-Win-Situationen schaffen kann (Godehardt 2016).
Pessimisten und Kritiker, die die BRI und Chinas Außenpolitik eher als Bedrohung bewerten, betonen, dass, obwohl jedes beteiligte Land frei ist, seine eigenen Beziehungen und seinen Einfluss innerhalb dieses Netzwerks zu entwickeln, China eindeutig den Kern der BRI darstellt und die beteiligten Länder zunehmend an seine eigenen Interessen bindet, die aufgrund seiner Größe immer überwiegen müssen. Insgesamt kann die BRI also als eine proaktiv-strategische Antwort Chinas auf die Frage angesehen werden, wie internationale Politik in einer zunehmend komplexen und multipolaren Zukunft re- oder sogar de-organisiert werden könnte. Kritische Beobachter heben jedoch hervor, dass der verborgene Anreiz der BRI darin besteht, China an die Spitze neuer globaler Regel- und Normsetzung zu stellen, und zwar genau dadurch, dass vorgegebene internationale Regeln und Ordnungsstrukturen parallelisiert und damit aufgelöst werden.
Aus systemischer Sicht weist Chinas Strategie im „Großen Spiel“ um Gestaltungsmacht und Einfluss auf der Weltbühne eine enorme Eigenkomplexität auf, was sie problemlösungsfähiger und kreativer in einer höchst komplexen, multipolaren Weltordnung operieren lässt. Dies erinnert an Prinzipien der Managementkybernetik, vor allem dem vielzitierten Ashby’schem Gesetz, wonach die Größe der Varietät eines Systems (Eigenkomplexität), die Varietät seiner Umwelt durch Steuerung vermindert (Ashby 1956). Es deutet einiges darauf hin, dass der Erfolg und wachsende internationale Einfluss Chinas auf ein ausgeprägtes Vermögen, systemisches Denken strategisch umzusetzen, zurückgeführt werden kann.
1.3. Systemisch-strategisches Denken als Grundlage von Chinas „Kriegsweisheit“
Einige Beobachter deuten das außenpolitische Vorgehen Chinas als Teil einer komplexen Reihe von Strategien, die auf alten Traditionen der Kriegsführungsweisheit beruhen, die in den letzten 3.000 Jahren permanenter Konflikte inner- und außerhalb Chinas entstanden sind. Die entsprechenden Schriften sind im Westen nur teilweise bekannt. Das bekannteste Beispiel in diesem Sinne ist die oft zitierte Kriegsmaxime von Sun Tzu: „Den Feind zu besiegen, ohne zu kämpfen, ist der Gipfel der Exzellenz“ (Stokes/Hsiao 2013) oder „Wenn eine Partei nicht weiß, dass sie sich im Krieg befindet, hat die Partei, die weiß, dass sie sich im Krieg befindet, fast immer den Vorteil und gewinnt in der Regel“ (Liang/Xiangsui 2017; ähnlich in Livermore 2018). Diese Prinzipien werden von der Zentralen Militärkommission der Kommunistischen Partei Chinas ausdrücklich befolgt (Stokes/Hsiao 2013). In der chinesischen Politik sind die Prinzipien der Kriegsweisheit die Grundlage des „Moulue“ - eines strategischen Konzepts der langfristigen Zukunftsplanung durch den Einsatz verschiedener Taktiken, einschließlich List und Täuschung. In diesem Sinne kann die BRI als ein offenes, aber dennoch klar ausgerichtetes langfristiges strategisches Konzept betrachtet werden, das vielfältige Taktiken beinhaltet, die westlichen Politikern weitgehend unbekannt sein dürften (von Senger 2018).
Die wichtigsten und populärsten Referenzen der chinesischen Kriegsweisheit sind „Die Kunst des Krieges“, die „36 Strategeme“ (Conners 2013) und das Go-Spiel (Lai 2004). Die „Kunst des Krieges“ wurde vom chinesischen Militärstrategen Sun Tzu verfasst und ist nach wie vor der einflussreichste Strategietext im ostasiatischen Kriegsführungsdenken (Smith 1999). Es lässt sich auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurückdatieren und hat bis heute sowohl östliches als auch westliches militärisches Denken, aber auch Wirtschaftstaktik und juristische Strategie beeinflusst. Das Buch betont besonders die Bedeutung von Geheimdienstoperationen und Agenten sowie der Spionage für die Kriegsanstrengungen. Es wird angenommen, dass „Die Kunst des Krieges“ die 36 Strategeme inspiriert hat, eine Sammlung von Kurzgeschichten und entsprechenden Maximen der strategischen Kriegsführung mit besonderem Schwerpunkt auf List und Täuschung. Der Schweizer Sinologe Harro von Senger weist in Bezug auf die Strategeme darauf hin, dass es zwischen China und dem Westen grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen über den Einsatz und die Legitimation von List und Täuschung gibt. Während diese Begriffe in der westlichen Wahrnehmung als „böse“ und moralisch anstößig gelten, betrachten chinesische Strategen sie als legitim und weise im Sinne von „Außergewöhnliches entwickeln und den Sieg erringen“ ohne explizite militärische Konfrontation (von Senger 2018). Dies deckt sich durchaus mit systemischem Denken, welches in seiner Reinform nicht normativ ist. Systemisches Denken fragt nicht danach, was „gut“ oder „schön“ ist, sondern, was „funktional“ ist, also wie sich bestehende Systeme selbst organisieren und was sie in komplexen Umwelten lebensfähig macht.
Mehr noch als „Die Kunst des Krieges“ und die 36 Strategeme hat der Einfluss des Brettspiels „Go“ auf dem Design der BRI einen klaren Bezug auf systemisches Denken und Chinas (zumindest aktueller) strategischer Überlegenheit im weltpolitischen Spiel um Einfluss und geostrategischer Positionierung. „Go“ wurde vor rund 3.000 Jahren in China erfunden, als dynamischeres „lebendiges Spiegelbild des chinesischen [...] strategischen Denkens“ (Lai 2004). Experten betrachten es als „Prisma, durch das China die Welt betrachtet und die Art und Weise, wie es denkt und agiert“ in der Kriegsführung, Militärtaktik, Wirtschaft und diplomatischen Verhandlungen (Vergun 2016). Verglichen mit dem europäisch-westlichen Schachspiel ist Go hinsichtlich seiner Vielfalt an Optionen und spielbaren Positionen als wesentlich komplexer anzusehen. Ziel dieses Spiels ist, das gegnerische Terrain zu erobern. Im Gegensatz zum Schach, das darauf abzielt, gegnerische Figuren zu entfernen und den gegnerischen König schachmatt zu setzen, beinhaltet Go subtilere Strategien, die sich mit der Zeit entfalten. Oft finden Angriffe nicht sofort statt, da das strategische Ziel eher darin besteht, die gegnerischen Figuren zu umzingeln (Vergun 2016; Lai 2004). All dies erfordert eine enorme Auffassungsgabe zeitlich und räumlich komplexer Zusammenhänge und damit einer weniger akteurszentrierten, sondern systemischen Perspektive. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der den - in europäischen Augen – ambivalenten und aus systemischer Sicht „eigenkomplexen“ Charakter der von China geführten BRI-Strategie erklärt, ist die Tatsache, dass Go keine eindeutigen Gewinner oder Verlierer auf dem gesamten Brett hervorbringen muss. William Braun erklärt, dass beim Go der „Verlierer“, der „gut gespielt hat, vielleicht insgesamt verloren hat, aber in verschiedenen Bereichen des Brettes gewonnen hat und mit dem Wissen aus dem Spiel gehen kann, dass nicht alles verloren war“ (Vergun 2016). Laut Braun könnte diese Analogie mit einer Reihe von „Grauzonen-Wettbewerbsinteressen“ korrelieren, die Europa und China in verschiedenen Teilen der Welt haben, einschließlich wirtschaftlicher und militärischer Aspekte, aber auch Cyber-, Politik- oder Geostrategien. Es muss nicht unbedingt einen klaren Gewinner geben, aber am Ende ist das Spiel vor allem für China von Vorteil (Vergun 2016).
Zusammengefasst mag Chinas zunehmende Dominanz im internationalen „Großen Spiel“ durchaus auf den Umstand zurückzuführen sein, dass sich sein außenpolitischer Ansatz, vor allem die BRI, als konsequent systemischer und damit als strategisch effektiver und anschlussfähiger in einer hochkomplexen Weltordnung erweist. Es ließen sich an dieser Stelle vielfältige strategische Optionen ausführen, die die EU (und die USA) beachten müssten, um wieder die Nase vorn zu bekommen. Kurz zusammengefasst wären es z. B.:
• Innere Konsolidierung der EU und ihrer Mitgliedstaaten, sodass die EU-Außenpolitik mit China „mit einer Stimme“ spricht. Die EU-Konnektivitätsplattform, welche als konsolidiertes Koordinierungszentrum für die BRI fungiert (Godehardt 2016; European Council 2018), ist bereits eine erste Initiative, die in diese Richtung gehen soll.
• Gemeinsame Vision: Die EU (im weitesten Sinne der Westen) braucht eine eigene, zeitgemäße Vision von Globalisierung 2.0, die auch auf die restlichen Staaten der multipolaren Welt anziehend wirkt.
• Systemisch-strategisches Denken: Ganz offensichtlich könnte die EU (bzw. der Westen) von der außenpolitischen Strategieentwicklung Chinas lernen. Das beinhaltet ein tiefergehendes Verständnis von chinesischer Kriegsweisheit, die konsequent systemisch-strategisch ausgerichtet ist und sich aufgrund ihrer hohen Eigenkomplexität (auf den Westen erscheint sie „ambivalent“) als sehr komplexitätsfähig erweist. Sie könnte, inspiriert von der BRI, ähnlich pragmatisch designte Kooperationsforen entwickeln, die unterschiedlichen politischen Systemen gegenüber offener sind und konsequent langfristige Win-Win-Interessen verfolgt.
• Ausspielen eigener Soft Power: Die EU ist per se eine Soft Power. Sie stellt weltweit (noch) den größten Binnenmarkt der Welt dar und verfügt darüber hinaus (noch) über eine enorme kulturelle Anziehungskraft auf den Rest der Welt. Sie weist im weltweiten Vergleich den höchsten Grad an politischer Integration einer Gruppe verschiedener Nationen auf und liefert eine natürliche Inspiration für politische Integration (z. B. ist die Afrikanische Union auch von der EU inspiriert). Zudem könnte die EU mächtige Staaten, die ein eher angespanntes Verhältnis zu China haben – wie z. B. Japan, Indien, USA – mit integrieren und – da sie auch zu China ein relativ konstruktives Verhältnis hat sogar eine Führungsrolle übernehmen könnte, eine friedenstiftende Brücke zwischen allen Staaten zu schlagen.
All diese und sicherlich noch weitere Optionen könnte die EU erwägen, um im geostrategischen „Wettbewerb der Modernen“ wieder Boden gut zu machen und Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. Mit Blick auf den zweiten großen globalen Trend, nämlich der Vielfalt und Komplexität globaler Krisen und der hohen Verwundbarkeit der internationalen Gemeinschaft rückt der Blick auf ein anderes, deutlich relevanteres Themenfeld: der Multi-Resilienz.
2. Multi-Resilienz: Antworten auf aktuelle und zukünftige globale Bedrohungen
Neben der zunehmenden Dominanz Chinas im aktuellen Diskurs über die Globalisierung 2.0 hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die internationale Gemeinschaft infolge zunehmender Vernetzung immer anfälliger gegenüber vielfältigen globalen Risiken wird. Die Perspektive hierauf relativiert die Bedeutung der Frage, ob und inwieweit nun die EU, die USA oder China das große, geopolitische Spiel um Macht und Einfluss gewinnt. Die internationale Gemeinschaft sitzt in einem Boot und ist spätestens mittel- und langfristig gleichermaßen betroffen. Die globalen Herausforderungen unserer Zeit erfordern nicht nur hochgradig und vielseitig krisenresistente Gesellschaften, sondern auch erweiterte Formen globaler Kooperation, die weit über den aktuellen Fokus auf militärische Sicherheit oder wirtschaftlicher Wohlstand hinausgehen. Könnte das neue Konzept gesellschaftlicher Multi-Resilienz dazu beitragen? Könnte es gleichzeitig womöglich auch der EU als Chance dienen, eigene Akzente im Gestalten der Zukunft der multipolaren Weltordnung zu setzen?
2.1. Von gesellschaftlicher Resilienz zu Multi-Resilienz
Als Antwort auf komplexe, globale Herausforderungen wurde das Konzept der „resilienten Gesellschaft“ seit Beginn des 21. Jahrhunderts popularisiert. Es bezeichnet die Fähigkeit einer Gesellschaft, Krisen zu widerstehen und im Idealfall gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Anders als der viel ältere Nachhaltigkeitsansatz fragt gesellschaftliche Resilienz nicht danach, wie soziale, ökologische oder ökonomische Krisen durch sorgsames Wirtschaften vermieden werden können. Vielmehr wird im Kontext von Resilienz bereits angenommen, dass Nachhaltigkeitspolitik nicht immer umgesetzt werden konnte und dass sich Krisen nicht vermeiden lassen. Somit zielt gesellschaftliche Resilienz darauf ab, das gesellschaftliche System so zu stärken, dass es auf unvorhersehbare Herausforderungen und Krisen, wenn sie denn eintreffen, angemessen antworten kann (Fathi 2019a).
Eine Schwäche der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Resilienz besteht darin, dass Resilienz einseitig, als Antwort nur auf einzelne Krisenarten diskutiert wird, z. B. „Resilienz angesichts des Klimawandels“, „Cyberresilienz“, „Resilienz in der Flüchtlingskrise“ oder aktuell „Resilienz in der Corona-Krise“. Dabei wird vernachlässigt, dass sich die internationale Gemeinschaft im 21. Jahrhundert darauf einstellen muss, auf vielfältige globale Probleme gleichzeitig Antworten zu finden. Vielfältige globale Herausforderungen, wie Flüchtlingskrisen, Wirtschaftskrisen, Cybersecurity-Bedrohungen und vor allem dem Klimawandel mit seinen vielen Begleiterscheinungen wie Naturkatastrophen, Unwetterereignissen, Überschwemmungen etc. (WEF 2021) stehen gleichzeitig an. Obwohl autoritäre Regime in Asien aufgrund ihrer relativ erfolgreichen Leistung bei der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie einen Reputationsschub erhalten zu haben scheinen, hat kein Land oder System einen angemessenen Rahmen entwickelt, um auf multiple Bedrohungen gleichzeitig angemessen zu reagieren.
Angesichts der komplexen und mehrdimensionalen Natur der heutigen globalen Herausforderungen und Bedrohungen hat sich der Diskurs über resiliente Gesellschaften in Richtung „Multi-Resilienz“ erweitert. Multi-Resilienz betrachtet die heutigen Herausforderungen an die internationale Gemeinschaft als „Bündel von Bedrohungen“. In diesem Zusammenhang bedeutet Multi-Resilienz die Fähigkeit eines sozialen Systems, verschiedenen Arten von Krisen gleichzeitig zu widerstehen (Fathi 2019a). Basierend auf systemischen Prinzipien zielt das Konzept darauf ab, „systemische Robustheit“ von Gesellschaften zu entwickeln, einschließlich einer verbesserten kollektiven Intelligenz und damit Problemlösungskapazität oder einer gesteigerten Fähigkeit, auf völlig unterschiedliche Krisenkontexte zu reagieren, durch effektive Kommunikation und Multi-Level-Governance über alle gesellschaftlichen Sektoren hinweg (einschließlich des öffentlichen Sektors, des privaten Sektors, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft).
Multi-Resilienz zielt – in Ergänzung zu den vielen bereits bestehenden, spezialisierten Konzepten, die dazu beitragen, Gesellschaften gegen einzelne Krisen reaktions- und handlungsfähiger zu machen – darauf ab, Gesellschaften aus einer abstrakt-systemischen Ebene „allgemein-fitter“ und lebensfähiger gegen Krisenvielfalt in der VUKA-Welt zu machen.
Eine Nebenbemerkung: Es fällt auf, dass in Diskursen auf weniger komplexen Systemebenen, also der Ebene psychischer und organisationaler Systeme, bereits Konzepte etabliert sind, die eine „Grundresilienz“ aufbauen und „allgemein-fit“ gegen unterschiedliche Krisen machen. So sind die viel zitierten „sieben universellen Resilienzfaktoren zu seelischer Widerstandsfähigkeit“ (Zander 2011; Reivich/Shatté 2003) durchaus auf vielfältige Krisen – von Arbeitsstress bis Lebenskrisen – anwendbar. Auch im organisationalen Kontext finden sich solche Konzepte. Dazu gehören vor allem die ISO-Norm 22316 (ISO 2017) oder das Konzept der Hochzuverlässigkeitsorganisationen (Weick/Sutcliffe 2001) oder die „Fünf Disziplinen“ von Peter Senge (1996). Das Konzept der Multi-Resilienz bezieht sich daher vor allem auf die Systemebene komplexerer sozialer Systeme, insbesondere Städte und Gesellschaften und – wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden – darüber hinaus.
2.2. Multi-Resilienz: Ein westlicher Beitrag zum Re-Globalisierungsdiskurs?
Die Grundoperation sozialer Systeme ist Kommunikation (Luhmann 1984). Das bedeutet, um gesellschaftliche Systeme „allgemein-fitter“, sprich: multi-resilienter, zu machen, bedarf es – wie oben dargestellt – insbesondere gelingender, effektiverer Kommunikation (näher hierzu auch: Fathi 2019b). Angesichts der Tatsache, dass alle Staaten weltweit von globalen Herausforderungen betroffen sind, liegt es nahe, dass verbesserte Kommunikation und im weitesten Sinne Kollaboration nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen Nationalstaaten notwendig ist. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie verbesserte Kommunikation zu multi-resilienteren Nationalgesellschaften und ggf. zu einer kollektiv-intelligenteren und damit krisenfähigeren Weltgemeinschaft beiträgt, sondern: Könnten die Konzepte von Resilienz und Multi-Resilienz selbst auch als Leitbild und Anreiz dienen, Kommunikation und globale Kooperation zu fördern?
Diese Frage lässt sich mit „Ja“ und „Nein“ beantworten. Es kommt darauf an, ob (Multi-)Resilienz auf den nationalen Kontext oder den internationalen Kontext angewendet wird. Für „Nein“ spricht, dass die COVID-19-Krise verschiedene Versuche von Nationen offenbarte, ihre Resilienz auf Kosten der globalen Kooperation zu erhöhen. Dazu gehörten z. B. einseitige Aktionen zu Beginn der Pandemie durch vorübergehende Schließung von Grenzen, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern oder ein Umdenken bei weltweiten Versorgungsproblemen angesichts ausbleibender oder umgeleiteter Lieferungen dringend benötigter medizinischer Geräte (Gebauer 2020). Die Krise hat nicht nur den Ruf nach mehr heimischer Produktion wichtiger Güter, sondern auch nach einer Verringerung der Abhängigkeit von internationalen Lieferanten laut werden lassen (Staufen 2020). Das Streben nach nationaler (Multi-)Resilienz kann so gesehen auch eine Atmosphäre des internationalen Wettbewerbs um Ressourcen verstärken, wie die „America First“-Politik des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump immer wieder zeigte. Aus einer nationalen Perspektive könnte das Konzept der Resilienz und im weitesten Sinne auch der Multi-Resilienz der internationalen Kooperation entgegenwirken.
Auf globaler Ebene erscheint es wiederum unabdingbar, über Strategien zur Förderung von Multi-Resilienz der internationalen Gemeinschaft nachzudenken, da multiple globale Risiken eben nicht von Nationalstaaten allein gelöst werden können (auch wenn Programme zum Erhöhen der Multi-Resilienz von Nationalstaaten durchaus zu einer höheren Überlebensfähigkeit beitragen dürften). Bislang waren militärische Sicherheit (z. B. NATO) und gegenseitiger wirtschaftlicher Wohlstand (z. B. EU oder BRI) die wichtigsten Anreize für Nationen, Formen der bilateralen oder multilateralen Zusammenarbeit zu entwickeln. Doch aufgrund des zunehmenden Bedarfs nach globaler (Multi-)Resilienz angesichts vielfältiger, miteinander verknüpfter globaler Risiken kann das Konzept als zusätzlicher, wichtiger Kontext für die globale Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert gezählt werden.
Angesichts der vielfältigen aktuellen Herausforderungen benötigt die internationale Gemeinschaft effektive interdisziplinäre globale Kooperations- und Entscheidungsmechanismen auf lokaler, nationaler und supranationaler Ebene, um schneller auf noch nie dagewesene Krisen reagieren zu können. In einer zunehmend multipolaren, vernetzten und damit verwundbaren Welt könnte die EU – die immer noch als einflussreiche Soft Power gilt – internationale Resilienz-Netzwerke fördern, um gemeinsame globale Herausforderungen in der Zukunft zu antizipieren und sich darauf vorzubereiten. Ähnlich wie bei Chinas BRI könnte dies auf der Basis von sich flexibel überschneidenden bilateralen und multilateralen Partnerschaften geschehen und als eine explizite Win-Win-Strategie kommuniziert werden.
2.3. Orientierungspunkte für höhere nationale und internationale Multi-Resilienz
Konkret könnte die EU nationale und globale Multi-Resilienz in mindestens vier Dimensionen aktiv fördern:
• Governance: Jede Form von Multi-Resilienz muss eine Multi-Level-Governance beinhalten, die zentrale und dezentrale Entscheidungsfindung integriert. Bislang gibt es auf internationaler Ebene keine ausgereiften Formen von Multi-Level-Governance. Weltweit beinhaltet die EU den höchsten Komplexitätsgrad, supranationaler Integration. Es beinhaltet Sanktionsmechanismen auf Bundesebene zusammen mit lokaler und nationaler Unabhängigkeit. Obwohl sie sich (noch) nicht auf das Niveau der „Vereinigten Staaten von Europa“ entwickelt hat, könnte die EU selbst als Inspiration für globales Multi-Level-Governance dienen (Grande 2000), das effektive Entscheidungsfindung auf allen Ebenen integriert. Die Förderung globaler Multi-Level-Governance bezieht sich auf das Konzept der Glokalisierung: ein Vorantreiben sowohl der globalen politischen Integration auf internationaler Ebene als auch der Stärkung dezentraler lokaler Autarkie.
• Kollektive Intelligenz ist nicht nur notwendig, um vergangene Erfahrungen systematisch auszuwerten und Best Practices zu entwickeln. Sie wird vor allem benötigt, um in völlig neuen, noch nie dagewesenen Krisensituationen innovative Lösungen zu entwickeln, zu testen und zu modifizieren (Innovative Practices). Auf diese Weise könnte und sollte sektor- und disziplinübergreifender Wissensaustausch und -integration sowohl in nationalen als auch in transnationalen Konstellationen systematisch umgesetzt werden und sich als wesentlicher Bestandteil vertrauensbildender EU-Diplomatie erweisen.
• Psychische Resilienz ist erlernbar und könnte systematischer in die nationale Bildungspolitik integriert werden. Auf internationaler Ebene könnten Resilienztraining und Wissensaustausch über erfolgreiche Resilienzpraktiken einen konstruktiven Kontext für internationale Kooperationen fördern. Dies könnte sich in verschiedenen Initiativen und Programmen, insbesondere im Bildungsbereich, manifestieren.
• Kollektiver Zusammenhalt ist für die Bewältigung zukünftiger globaler Herausforderungen unerlässlich, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene. Dabei könnten Gewahrsein und gemeinsame Antizipation globaler „Krisenbündel“ intra- und international identitätsstiftend wirken und zur Schaffung eines gemeinsam getragenen Multi-Resilienz-Leitbilds beitragen. International könnten sich Solidaritätsinitiativen als wichtiger erster Schritt erweisen. Sie erweisen sich als effektiver Ansatz zur Vertrauensbildung und zur Bildung strategischer Allianzen. Während der COVID-Krise nutzten einige Staaten, wie z. B. China, Russland oder aus dem Westen, solche Initiativen auch als diplomatisches Werkzeug, um Beziehungen zu Staaten strategisch zu verbessern.
Zusammengefasst könnte das Konzept nationaler und vor allem internationaler Multi-Resilienz dazu beitragen, die Gestaltung einer krisen- und komplexitätsfähigeren internationalen Gemeinschaft voranzubringen. Die EU könnte damit wichtige eigene Akzente im aktuell noch stark auf wirtschaftliche Kooperation fokussierten Globalisierungsdiskurs zu setzen.
3. Zusammenfassende Schlussfolgerungen und Ausblick
Kooperationsbasierte Multi-Resilienz, wie sie in Erwartung weiterer Herausforderungen für die globale Gemeinschaft dringend erforderlich wäre, könnte eine einzigartige Gelegenheit bieten, eine einheitliche und zeitgemäße Vision für die globale Zukunft zu entwerfen. Aktuell erweist sich der Westen im von China dominierten Globalisierungsdiskurs, welcher stark auf gemeinsamen wirtschaftlichen Wohlstand fokussiert, als erstaunlich ideenlos. Dabei wäre die EU selbst, aufgrund ihrer weltweit guten Beziehungen, ihrer Soft Power und ihres weltweit einmaligen Komplexitätsgrads politischer Integration prädestiniert, eine Leitrolle einzunehmen, eine Vision für eine multi-resiliente Weltgemeinschaft voranzubringen. Dies setzt allerdings voraus, dass die EU-Gemeinschaft auch Solidarität in Krisen, wie zuletzt der Corona-Krise, vorlebt, was vor allem zu Anfang der Krise noch nicht der Fall war.
Ergänzend ist auch denkbar, dass nicht nur die Politik, sondern auch Initiativen anderer gesellschaftlicher Teilsektoren, z. B. der Zivilgesellschaft oder Wissenschaft, internationale Kooperation in Vorbereitung auf künftige Krisen vorantreiben. Als ein Beispiel von vielen sei eine Initiative aus der Zivilgesellschaft erwähnt: Die Simpol-Initiative. Simpol übersetzt sich als „simultane Politik“, steht für eine Initiative, die Stimmen aus der Zivilgesellschaften mehrerer Nationen sammelt, um nationale Regierungen zu globaler Kooperation zu bewegen. Ziel ist dabei, politische Maßnahmen zu mehreren globalen Problemen in einem Vereinbarungspaket auszuarbeiten und sie alsdann gleichzeitig in allen Nationen in Kraft zu setzen (Simpol Deutschland).
Zusammengefasst könnte sich das Multi-Resilienz-Konzept, ergänzend zu bereits bestehenden Leitbildern, als Chance erweisen, Globalisierung aktiv neu zu gestalten, das „Große Spiel“ um Macht und Einfluss auf der Weltbühne in eine konstruktive Bahn zu lenken und dem Trend zunehmend vielfältiger und komplexer globaler Krisenbündel gerecht zu werden. Bisherige Formen internationaler Zusammenarbeit betonten eher militärische Sicherheit (z. B. NATO) oder wirtschaftliche Kooperation (z. B. BRI oder EU). Multi-Resilienz-Kooperationen könnten diese um den Aspekt des gemeinsamen Wissensaustauschs und Krisenantizipation und -reaktion angesichts globaler Krisenbündel erweitern. Die EU könnte hierbei, wie mehrfach betont, eine führende Rolle spielen.
Weitere wichtige Schritte für die EU-Länder könnten darin bestehen, erstens eine Vision von Multi-Resilienz im Kontext von Globalisierung 2.0 zu reflektieren, zu entwerfen und zu kommunizieren und zweitens aktiv länderübergreifende Mechanismen der globalen Krisenkoordination auf der formalen Ebene bestehender supranationaler Institutionen (d.h. auf EU- und UN-Ebene) zu initiieren. Inspiriert vom BRI könnte dies auch durch Gespräche und Kooperationen auf informeller, bilateraler Ebene mit Staaten auf der informellen Ebene unterstützt werden.
All dies kann geschehen, wenn sich Multi-Resilienz als politischer Ansatz zur Entwicklung staaten-, sektor- und disziplinübergreifender Kooperation angesichts aktueller und bevorstehender globaler Krisen und Krisenbündel entwickelt.
Quellen (Internet zuletzt eingesehen am 18.04.2021)
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ist deutscher Krisen- und Resilienzforscher, Experte für Mediation und Mitglied des wissenschaftlichen Teams des FORMWELTen-Instituts. Bücher u. a.: Kommunikative Komplexitätsbewältigung – Springer , Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit – Springer. https://karimfathi.de/