71. Lindauer Psychotherapiewochen 2021
Fachtagung zur Fortbildung und Weiterbildung in Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosomatik.
Die Lindauer Psychotherapiewochen (LP) sind als Fachtagung in erster Linie für die psychotherapeutische Fortbildung und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten, Diplom-Psychologinnen und Psychologen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten aller Psychotherapierichtungen gedacht. Traditionell sind die Therapiewochen tiefenpsychologisch orientiert, darüber hinaus bieten sie aber auch ein breites Spektrum in unterschiedlichen Methoden und Verfahren der Psychotherapie an.
„Die Idee der Tagung ist, die Teilnehmer in den Vorlesungen und Vorträge intellektuell zu fordern, ihnen Gelegenheit zu geben, sich auszutauschen und einander zu begegnen und dabei den Wohlfühlfaktor Lindaus zu genießen.“, so Verena Kast über die Lindauer Psychotherapiewochen.
Der Kongress, der seit 1950 einmal jährlich im April in Lindau stattfindet, wird seit 1967 von der Vereinigung für psychotherapeutische Fort- und Weiterbildung e.V. veranstaltet.
Wissenschaftliche Leiter sind Prof. Dr. phil. Cord Benecke (seit 2020), Prof. Dr. med. Peter Henningsen (seit 2011) und Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber (seit 2017). Prof. Dr. phil. Verena Kast (seit 2001) scheidet zum Ende April 2020 aus der Wissenschaftlichen Leitung aus.
1. Woche | 11. bis 16. April 2021
Soziale Beziehungen im Umbruch
Dieses Thema, schon vor der Corona-Pandemie für 2020 ausgewählt, hat durch diesen Epochenbruch an Aktualität gewonnen. Wir haben es gerade im Entzug noch einmal eindrücklich vor Augen geführt bekommen: unsere Beziehungen zu anderen Menschen sind lebenswichtig und entwickeln sich über die Lebensspanne kontinuierlich. Kontinuierlich ist dabei vor allem der Wandel - sowohl der Beziehungen selbst als auch deren Qualität. Aber auch die Weise, wie wir im gesellschaftlichen Raum miteinander unsere sozialen Beziehungen gestalten, steht unter der Spannung von Kontinuität und Wandel. In den letzten Jahren ist der Eindruck entstanden, dass hier der Wandel überwiegt, ja, dass es - schon vor Corona - einen regelrechten Umbruch in der Gestaltung unserer sozialen Beziehungen gibt. Natürlich geht es um die Folgen von Ansteckungsangst, Lockdown und Isolation, von Einschränkungen und Protest dagegen, von Home Office oder Kurzarbeit - aber es geht auch insgesamt um die komplexen Auswirkungen der Digitalisierung und der „social“ media, der Entgrenzung und Verdichtung der Arbeit, der Entgrenzung der Mobilität bis hin zu Veränderungen des Paarbildungs- und Sexualverhaltens und dem Wandel der Geschlechtsidentitäten. Psychotherapeutisch stellt sich die Frage, welche Unterstützung für die von Corona besonders betroffenen Menschen möglich sind und wie sich Wandel und Umbrüche sozialer Beziehungen seelisch auswirken, z.B. auf die Entwicklung und strukturelle Fähigkeit zur Bindung, auf die Affektregulation oder auf die Bedeutung von Autonomie und welche neuen psychopathologischen Phänomene damit einhergehen, z.B. Verhaltenssüchte oder Erwachsenen-ADHS. In den Vorträgen und Vorlesungsreihen der ersten LP Woche möchten wir die Umbrüche in den sozialen Beziehungen vor und nach Corona und mögliche Auswirkungen auf seelische Entwicklung und Persönlichkeitsstruktur bei unseren Patienten und bei uns allen diskutieren. Eine besondere Beachtung gilt mit Gruppen- und systemischer Therapie zwei Psychotherapieformen, die die Realpräsenz sozialer Beziehungen in ihrem Vorgehen in den Fokus nehmen. Die Hybridstruktur der LP 2021 mit Realpräsenz und Online-Komponente macht uns zugleich zu Teilnehmern an einem Experiment veränderter sozialer Beziehungen untereinander - hoffen wir, dass es gelingt und dass wir uns bald wieder ungeschmälert begegnen können.
2. Woche | 18. bis 23. April 2021
Psychotherapie im Umbruch
Schon vor Ausbruch der Pandemie stand fest: Einiges hat sich geändert in der Psychotherapie und einiges wird sich noch ändern in naher Zukunft. Doch durch unsere Erfahrungen mit der Corona-Pandemie müssen wir uns mit ganz neuen Herausforderungen auseinandersetzen. Wohin bewegt sich aber die Psychotherapie. Es werden die Krankenkassenleistungen und damit die Richtlinienverfahren um die systemische Therapie erweitert, eine bisher nicht durch psychodynamische Therapie ambulant zu behandelnde Patientengruppe kann über Krankenkassen abgerechnet werden (Patienten mit schizophrenen Psychosen). Die Idee einer modularen Psychotherapie führt zu hitzigen Diskussionen in den Fachgesellschaften sowie im Internet. Die Veränderung des Psychotherapeutengesetzes im Sinne der Direktausbildung wird pro und kontra diskutiert. Aber auch die Definition einiger Krankheitsbilder (z.B. Trauerreaktion/Depression) ist im Umbruch, vor allem durch die neuen Diagnosesysteme DSM 5 und ICD 11 - was wird das für Folgen haben? Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung als stabiler Wirkmechanismus betonen alle Therapieschulen, aber können wir deshalb die Gestaltung der therapeutischen Beziehung als schulenübergreifende Kernkompetenz ansehen oder verstehen die verschiedenen Therapierichtungen die therapeutische Beziehung je unterschiedlich und gestalten sie entsprechend anders? Haben sich die durch die Corona-Pandemie bewirkten Veränderungen wie Online-Therapie, social distancing oder Mund-Nasen-Schutz auch auf die therapeutische Beziehung ausgewirkt? Befördert die Pandemie einen schulenübergreifenden Common Ground, da es um existenzielle Themen geht? Diese Fragen und die in unseren Diskussionen noch entstehenden Themen zum Umbruch in der Psychotherapie sowie unsere speziellen Erfahrungen mit Online- und Präsenz-Therapie in Corona-Zeiten sind Herausforderungen unserer Zeit an uns Psychotherapeuten, die wir in den verschiedenen Vorträgen und Vorlesungsreihen der zweiten LP Woche diskutieren wollen. Das für die LP 2021 geplante Hybrid-Modell reflektiert, wie tiefgreifend wir nicht nur in unseren therapeutischen, sondern auch in unseren sozialen Beziehungen betroffen sind.