74. DGPT-Jahrestagung
Thinking under fire – Angriffe auf den Denkraum
Mit thinking under fire beschrieb Wilfred R. Bion 1975 die Anforderung an Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in besonders schwierigen Behandlungssituationen. Es handelt sich dabei um Situationen, an denen nicht nur jede auch noch so gut begründete Intervention abprallt, sondern in denen auch das Denkvermögen des Psychoanalytikers bzw. der Psychoanalytikerin als solches angegriffen wird. In der klinischen Praxis geht es dabei um Denkgebote, Denkverbote und Tabuisierungen, aber eben auch um eine Zersetzung des Denkens selbst. Dabei ist das Denken i. S. von Bion kein rein kognitiver Vorgang, sondern eng mit den Gefühlen verlötet. Mit den Angriffen auf das Denken ist zugleich auch die psychotherapeutische Beziehung angegriffen. Die Angriffe auf den Denkraum können sowohl psychologischer, als auch konkret physischer Natur sein. Letzteres zeigt sich in Ländern wie der Ukraine oder Israel, in denen Psychotherapie teilweise nur unter Kriegsbedingungen durchgeführt werden kann.
Angriffe auf den emotionalen Denkraum sind nicht allein auf die klinische Situation beschränkt. Wir erleben solche Angriffe – Stichwort Fake News - auch im gesellschaftlichen Raum in Form von Attacken auf die Wahrnehmung und auf jedweden Konsens darüber, was gemeinsam für wahr-genommen wird. Einerseits handelt es sich hier um Angriffe äußerer Herkunft, wie die hybride Kriegsführung totalitärer Staaten gegen die westliche Welt, z. B. durch Cyberattacken oder durch Kampagnen, die auf Spaltung und Desinformation abzielen. Andererseits handelt es sich auch um Angriffe aus unserer Mitte, welche die Voraussetzungen des Miteinanders in unserer Kultur untergraben können. Hier geht es vor allem um Angriffe auf vieles, was den emotionalen Denkraum absichert: Die Akzeptanz grundlegender Facts of Life (Roger Money-Kyrle 1971), wie der grundlegenden Abhängigkeit von anderen, der ödipalen Struktur und der Vergänglichkeit. Wir erleben auch Angriffe auf die Akzeptanz von Prinzipien, die für das Gemeinwesen konstitutiv sind, wie z. B. die Begrenzung der Freiheit des Einzelnen dort, wo die Freiheit eines anderen beginnt. Dies geht einher mit zunehmender Nicht-Akzeptanz von Führung und Konfliktlösung im demokratisch legitimierten Sinne. Angegriffen sind heutzutage auch die Prinzipien der Wissenschaft sowie die Ächtung von Antisemitismus, Rassismus, religiöser oder geschlechtlicher Verfolgung.
Bion sprach in diesem Zusammenhang von einem Angriff auf Verbindungen. Mit der Herstellung von Verbindungen – auf persönlicher, fachlicher, wissenschaftlicher und kultureller Ebene - ist auf den Punkt gebracht, worum es uns bei unserer 74. Jahrestagung im schönen Weimar geht, in das wir gerne zurückkehren: Wir möchten zum Erhalt und zum Ausbau emotionaler Denkräume beitragen, auch um zu einem angemessenen Umgang mit den bestehenden Bedrohungen beizutragen. Dabei müssen wir uns auch fragen, welche Denkgebote und -verbote den Denkraum innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft bestimmen. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns sehr auf Ihre Beiträge.