9. SWF Forum 2023
Halt im Haltlosen
Unsere Jahrestagung 2023 „Halt im Haltlosen“ knüpft an Fragen an, mit denen Management und Beratung eigentlich schon seit Anbeginn zu tun haben, die jedoch mit dem Aufkommen systemischer Ansätze nochmals neu und anders zunächst in die wissenschaftliche Beschreibung und später auch in die Beobachtung der Praxis gekommen sind: Was sind angemessene Formen der Komplexitätsreduktion in einer komplexen Umwelt? Wie agiert man in einer Welt, die immerzu Überraschungen bereithält, die man mit Planung weder vorhersehen noch eliminieren kann? Wie kann man individuell und kollektiv Sicherheit in der Unsicherheit finden, um überhaupt handlungs- und entscheidungsfähig zu werden?
Das Tagungsthema ist folglich ein Bekanntes – einerseits. Und andererseits bekommt es durch die weltpolitische und weltwirtschaftliche Lage eine neue Aktualität. Das Gefühl mag trügen, aber vor dem Hintergrund einer jahrelangen Phase des wirtschaftlichen Wachstums (mit kleineren Krisen), befinden wir uns seit Beginn der Corona Pandemie (vgl. Groth 2021) und hinzukommend mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine in einer Phase, in der die Haltlosigkeit der von Luhmann (1993) so beschriebenen „haltlosen Komplexität“ noch konkreter erfahrbar wird. Darum ergänzen wir unsere Fragestellung: Wie findet man „Halt im Haltlosen“ angesichts vielfältiger Krisenphänomene, die wir nur kurz umreißen wollen mit Schlagworten wie Klimakrise, Energiepreise, Inflation, Lieferengpässe, Fachkräftemangel … – dies sind allesamt Phänomene, die entweder schon sehr konkrete Auswirkungen auf Wirtschaft und Beratung haben, oder die sich sehr deutlich in ihrer Relevanz abzeichnen – von der Notwendig einer nachhaltigen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ganz zu schweigen.
Wir freuen uns über Zusagen von Prof. Dirk Baecker, Dr. Sandra Groll, Ulrike Hermann und Prof. Patrizia Nanz als erste Impulsgeber:innen. Dirk Baecker wird die Perspektive der soziologischen Systemtheorie einnehmen und aufzeigen, wie Systeme Halt finden in der Reduktion von Komplexität. Sandra Groll stellt vor, wie in der Designtheorie und in den Designprozessen von Anbeginn das Thema der Reduktion auf Formen gedacht wurde und man dort Halt in der Gestalt findet. Und die Wirtschaftskorrespondentin und Bestsellerautorin Ulrike Hermann weist uns nachdrücklich darauf hin, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form der Vereinfachung von Komplexität nicht in der Lage ist, passende Antworten für den Klimaschutz zu liefern. Sie wird sicherlich von einem anderen Halt sprechen, Halt im Sinne von Stopp, so wie jetzt können wir nicht mehr weiter machen, wenn wir das Ziel der Klimaneutralität erreichen wollen.
Nachdem Patrizia Nanz letztes Jahr leider kurzfristig ihre Teilnahme absagen musste, freuen wir uns umso mehr, dass sie 2023 mit dabei sein wird. In ihrem Beitrag wird es darum gehen, wie soziale Innovation “von unten“ durch partizipative Verfahren in der Gesellschaft etabliert werden können, so dass sie der Gesellschaft Entscheidungsfähigkeit und damit Halt geben können.
Für die Tagung wollen wir uns den Umstand zunutze machen, dass die erfahrbare neue Haltlosigkeit auf einer abstrakteren Ebene eine bekannte ist. Im Kern der Tagung wird es also um „Komplexität“ gehen – und es soll auch darum gehen, dass Komplexität nicht nur ein Problem, sondern immer eine Lösung ist, wie Baecker (1999) schreibt. Mit der Systemtheorie lässt sich also nicht nur das Problem angemessen erfassen, es lassen sich auch Vorgaben skizzieren, wie intelligente Formen der Komplexitätsreduktion und Unsicherheitsabsorption gestaltet werden müssen. Denn eines sollte nicht vergessen werden; im Alltag, auch in der jetzigen Phase der Haltlosigkeit, finden sich vielzählige Beispiele, wie dennoch ein „Halt“ gefunden wird, wie Individuen, Teams und Unternehmen, wie Führung und Beratung „Lösungen“ gefunden haben, von denen andere lernen können.