Amazon-Rezensionen

Kritiker spielen für den Erfolg eines Buches oder Films (etc.) eine wichtige Rolle. In Zeiten des Internets ist diese Rolle demokratisiert worden. Jeder kann sich als Kritiker etablieren, wenn er dazu die nötige Lust und Laune, Zeit und wahrscheinlich auch Eitelkeit oder zumindest Schamlosigkeit besitzt.


Und es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass der Verkaufserfolg eines Buches (um nur ein Beispiel auszuwählen) von der Zahl der Rezensionen bei Amazon abhängt. Was viel rezensiert wird (selbst wenn es verrissen wird), wird viel gekauft.


Einige mir bekannte Autoren sorgen daher dafür, dass ihre Bücher möglichst schnell und viel von Freunden, Verwandten, Angestellten, Kollegen usw. rezensiert werden.


Ich muss gestehen, dass ich das bisher noch nie getan habe (obwohl ich weiss, dass es nützlich wäre und ich die Versuchung gespürt habe). Aber irgendeine, mir nicht erklärliche Form der Scham hält mich davon ab. Ich bin wahrscheinlich ja nicht zufällig mal Psychotherapeut geworden, d.h. in einer Profession gelandet, die sich einem Werbeverbot unterworfen hat. Wenn ich Kunden acquirieren müsste, würde ich wahrscheinlich verhungern...


Aber das ist nicht wirklich das, was mich in der Frage der Amazon-Rezensionen beschäftigt. Dass einige meiner oder der vom Auer-Verlag publizierten Bücher nur wenig besprochen werden, obwohl sie meiner Meinung nach ein wenig mehr Aufmerksamkein verdienen, kann ich ertragen. Was ich ärgerlicher finde, ist, wenn ein Mensch ein Buch bespricht und es verreisst, weil er offenbar geistig überfordert mit der Lektüre ist (d.h. problematisch ist, wenn es nur einer ist, denn wenn es mehrere Besprechungen gibt, wird die Beschränktheit des Rezensenten in der Regel deutlich); oder wenn er verärgert darüber ist, dass ein Buch nicht in der Weise, wie der Rezensent erhofft hat, gedruckt wurde, oder die Post ihn nicht rechtzeitig erreicht hat usw. Er vergibt dann die schlechteste Note, die verfügbar ist, obwohl, wie er - im Fall des schlechten Drucks - in einem Nebensatz erwähnt, der Inhalt des Buches aus seiner Sicht ok oder gar empfehlenswert ist.


Hier eröffnet offensichtlich das demokratische Rezensionswesen den Zukurzgekommenen dieser Welt eine Möglichkeit, kleinbürgerliche oder kleingeistige Rachefeldzüge zu starten oder Frustrationsabfuhr zu suchen.


(Ich gebe zu, dass ich aus Ärger auch schon mal einer italienischen Versandbuchhandlung eine miserable Note gegeben habe, weil ich trotz Zahlung die bestellte Ware nicht bekommen habe, auf die ich dringlichst wartete; als sie dann endlich da war, wurde ich von der Firma gebeten, die Bewertung wieder zu ändern, da sie für sie geschäftsschädigend sei, aber ich konnte das dann nicht mehr rückgängig machen. Ich hätte, um meine Intervention in ihrer Wirkung auszugleichen, lauter positive Bewertungen ins Netz stellen können, aber dazu war ich denn doch nicht bereit.)


Die Macht des kleinen Mannes, die ich da ausgenutzt habe, wirkt dadurch, dass hier Einfluss auf Selektionsmechanismen genommen wird, auf die man in der Vorinternetzeit nur als privilegierter (= mächtiger) Medienverwalter (Journalist, Kritiker, Michelin-Vorkoster usw.) Einfluss hatte. Mit seinen verweigerten Sternen setzt man ein Signal, an dem andere sich orientieren. Da ich mich auch an solchen Sternen orientiere, weiss ich, dass dies eine nicht zu unterschätzende Sortierfunktion hat.


Diejenigen, die ein Buch, Hotel oder Restaurant gut finden, sind offensichtlich weit weniger motiviert, sich der Mühe des Schreibens einer Rezension zu unterziehen, als diejenigen, die sich als Esser über den Koch geärgert haben, als Leser mit ihrer eigenen Blödheit konfrontiert wurden etc. Ärger und Wut motivieren offensichlich mehr als Zufriedenheit, das eigene Urteil zu publizieren.


Trotzdem: Ich bin ein Anhänger der Demokratisierung des Kritikerwesens, da ich auch schon vollkommen idiotische Rezensionen von professionellen Kritikern (von Büchern, Filmen, Opern usw.) gelesen habe. Die Tatsache, dass jeder könnte, wenn er wollte, ist m.E. ein kaum zu unterschätzender sozialer Fortschritt. Und der Preis dafür ist eben das oben beschriebene Phänomen.


Allerdings, das scheint mir die Konsequenz: Man sollte sich generell mehr einmischen, um nicht nur einer kleinen Gruppe semi-professioneller Narzissten und Wichtigtuer das Feld zu überlassen.