Anti-irgendwas-Demo in Berlin

Nichts hat solch starke, Gemeinschaft stiftende Wirkung, wie ein gemeinsamer Gegner. Das hat sich am Samstag wieder einmal in Berlin gezeigt. Bei der sogenannten Querdenker-Demonstration war ein buntes Gemisch von Leuten zu beobachten, die - da bin ich ziemlich sicher - keine gemeinsamen Ziele oder die Vorstellungen davon teilen, wie unsere Gesellschaft ausehen sollte. Trotzdem haben sie sich versammelt: Extreme Rechte, extreme Linke, Impfgegner, Aluhüte, Exorzisten, Christen, Esoteriker, Teufelsanbeter, radikale Köche, Idioten, Professoren und Lehrer (was nicht unbedingt als Gegensatz zu Idioten zu verstehen ist), AfDler und andere Reichsbürger usw. Eine bunte Mischung, die man nie alle zusammen im selben Club trefen würde; Leute, die sich in jedem anderen Kontext mit dem Ausdruck des Ekels im Gesicht  voneinander abwenden würde...


Wie ist zu erklären, dass sie alle gemeinsam auf die Strasse gehen, und sich dabei nicht komisch vorkommen.


Der Hintergrund hat m. E. mit den Prinzipien jeder Wirklichkeitskonstruktion zu tun. Wir vollziehen immer Unterscheidungen zwischen "innen" und "außen". Wir unterscheiden z.B. zwischen "wir" und "die anderen". Dabei wird üblicherweise nur eine Seite der Unterscheidung inhaltlich definiert, d.h. nur einer Seite werden definierende Merkmale zugeschrieben. Wenn die Eigenschaften von "wiir" beschrieben werden sollen, werden die meisten Leute wählerisch und errichten klare Grenzen gegenüber "den anderen". Nicht jeder soll zu "uns" und "unserem" exklusiven Verein gehören dürfen. Das verhindert, dass es zu einem Konsens unter einer größeren Zahl von Menschen kommt.


Einfacher ist das Finden eines Konsens, wenn man die Merkmale des "Außen" definiert, die man nicht hat oder nicht haben will. Man weiss dann zwar nicht, welche besonderen Merkmale die eigenen Identität definieren, aber man weiss wenigstens, wer oder was man nicht ist. Dabei ist es egal, was als "außen", d.h. als nicht dazugehörig oder feindlich definiert ist. Ja,man muss sich noch nicht mal darüber einig sein, wogegen man sich abgrenzt. Es reicht, sich an der Hand zu fassen, und dagegen zu sein.


Das dürfte auch das Gemeinsame der Demonstranten gewesen sein: dagegen.


Ich kann das gut verstehen, denn ich bin ja meistens auch dagegen... (gegen was auch immer).


Heute sind viele Leute irgendwie gegen "Corona". Aber das ist ja nur ein Chiffre, denn ob es das wirklich gibt und was es bedeutet, darüber besteht keine Einigkeit. Aber es ist gut - schon vor Coraona bestand die Bereitschaft dazu - endlich etwas dagegen tun zu können.


Um eine sozialpsychologische Erkärung für die Bereitschaft sich zu erregen, die ja nicht mit der Corona-Krise begonnen hat, zu versuchen, ein paar Überlegungen:


Wir leben in einer Zeit, in der die alten Sicherheiten verloren gegangen sind. Vor 30 oder 40 Jahren konnte man noch einen Beruf ergreifen, den man dann bis zur Rente ausübte. "Die Rente ist sicher" gilt nicht mehr; der Rest des Lebens war auch damals nicht sicher, aber überschaubar und vermeintlich verstehbar, d.h. er erschien kontrollierbar. Die Welt war in Gut und Böse geteilt, die Guten wohnten auf der eigenen Seite der Mauer, die Bösen auf der anderen Seite (innen/außen). Mit der Auflösung der Blöcke, der Globalisierung und Digitalisierung ist die Welt verwirrenderr und unsicherer geworden. Es gibt nicht mehr nur Mann und Frau, Ost und West, sondern noch alle möglichen anderen Geschlechter, und ob Ost nicht Nord und West nicht doch Süd ist, weiss auch keiner mehr.


Das löst bei vielen Menschen eine diffuse, ungerichtete Angst aus. Und das beste Mittel gegen Angst ist Furcht. Denn die ist nicht diffus, sondern auf ein konkretes Objekt gerichtet. Konkrete Gegner und Feinde können bekämpft werden, man kann sich gegen sie wappnen und gegen sie verbünden. Corana selbst ist dafür nicht geeignet, denn das Virus kann man nicht sehen, und daher kann man bezweifeln, dass es überhaupt exiistiert. Aber diejenigen, die jetzt Hygiene-Maßnahmen verordnen, die kann man benennen. Und die vermeintlichen Profiteure auch: Bill Gates, die da oben, George Soros, das Weltjudentum, die Verschwörung der Pharmaindustrie, die uns Chips einpflanzt, um uns "umzuvolken" oder zumindest eine Gesundheitsdiktatur zu errichten usw. - es ist eigentlich egal, wen man sich da aussucht. Corona ist ein Joker, jeder kann ihn für die Konstruktion seines eigenen Außenfeinds verwenden... Und wenn jeder das ganz individuell macht, dann fühlt er/sie sich als Individualist/in in der Gemeinsachaft mit allen anderen Individualisten und Freiheitskämpfern, die auch dagegen sind.


Es ist leicht, sich gegen etwas einig zu sein. Fragen sie eine große Zahl von Leuten, ob sie Spinat mögen. Einige werden begeistert den Finger heben; dasselbe bei Kaviar, Schnitzel usw. Andere werden sich voller Abscheu abwenden und schon bei dem Gedanken an Spinat, Kaviar oder Schnitzel still vor sich hinkotzen. Darüber, dass so etwas schmeckt, ist keine Einigung ist zu erzielen. Ganz anders, wenn Sie fragen, wer Scheiße fressen will. Sie werden eine erstaunliche Einigkeit in der empörten Ablehnung erhalten. Politisch findet zwar jeder etwas anderes Scheiße, aber in der Ablehnung von Scheiße ist man sich einig.