"Das Humanum" (=conditon humaine) und die Systemtheorie

In den letzten Tagen wurde, wie früher schon ab und zu, wieder mal die Frage gestellt (und vermeintlich beantwortet), wo denn in der Systemtheorie "das Humanum" bleibe (Antwort, die gegeben wurde, mir aber nicht angemssen erscheint: "Sie schleicht drum herum, sich wie eine Katze um den heißen Brei!").


Wenn mit "das Humanum" die - wie ebenfalls gesagt und für mich übersetzt - die "Condition humaine" oder, noch schlichter ausgedrückt, das, was das spezifisch Menschliche am Menschen ist, gemeint sein sollte, so liefert die Systemtheorie (und damit meine ich die Luhmannsche Variante, nicht die personenzentrieten Ansätze, die für Therapeuten hilfreich sind, aber nicht, um Gesellschaft zu erklären) durchaus einen Theorierahmen für die Beantwortung dieser Frage vor, auch ohne sich als Theorie speziell mit dieser Frage zu beschäftigen. Theorien, die sich speziell dieser Frage widmen, landen m.E. fast immer bei irgendwelche naturalistischen Antworten, die mir höchst fragwürdig erscheinen.


Also zur Sache: Die Luhmannsche Systemtheorie ist eine Kommunikationstheorie, und insofern m.E. (ich schreibe hier natürlich generell nur, was meines Erachtens gilt oder richtig ist, schließlich bin ich nicht der Exeget Luhmanns oder sonst in irgendeiner Position festzustellen, was wahr und richtig ist) perfekt geeignet genau zu benennen, was den Menschen vom Affen unterscheidet (genetisch ist da ja nicht so viel Unterschied): die Formen der Kommunikation bzw. der Kommunikationsmöglichkeiten, die mit der Entwicklung von Sprache(n) verbunden sind. Dass man auch ohne Sprache kommunizieren kann, weiss jeder, der schon mal die Affen im Zoo beobachtet hat, und die Ethologen haben dicke Bücker über ihre Beobachtungen geschrieben. Was aber die Sprache ermöglicht, ist im Unterschied zu einer Affenhorde, dass Kommunikation auch ohne Anwesenheit der Kommunikationsteilnehmer möglich wird, Botschaften (Wissen z.B) über Generationen weiter gereicht werden können, und heute zeigen Internet und die Systemische Kehrwoche, dass man sekundenschnell auf die mehr oder weniger intelligenten Ideen anderer Menschen eingehen kann, ohne diese Menschen überhaupt jemals zu Gesicht zu bekommen...


Dass Kommunikations erst den Menschen zum Menschen (wie wir ihn kennen) macht, zeigt die Entwicklungspsychologie - von den Babywatchern bis zu den Spracherwerbsforschern. Wir leben in Sprache. Aber das ist natürlich nicht alles, was unsere Spielregeln der Kommunikation erklären kann. Da gibt es jede Menge andere Kanäle, die interpersonell zur Kommunikation genutzt werden. Mir persönlich scheint das Modell von Cronen u. Pearce am besten geeignet die unterschiedlichen Kontextualisierungen, die jeder erwachsenen Teilnehmer an der Kommunikation vornimmt, um das Verhalten seiner Mitmenschen zu lesen (was immer heißt: zu interpretieren) zu erfassen.


Sie unterscheiden unterschiedliche Kontexte, in die wir das direkt beobachtete Verhalten, sei es verbal oder nicht verbal, einordnen und deuten:


Wenn jemand zu uns spricht, dann hören wir (1) den Inhalt, interpretieren ihn aber aufgrund (2) des gesamten Sprechaktes, d.h. inklusive Mimik, Gestik, Tonfall und was sonst noch nonverbal zu beobachten ist. Doch damit nicht genug: Auch all dies wird wieder kontextualisiert, d.h. aufgrund (3) der gesamten Interaktionsepisode, d.h. dessen, was vorher und nachher geschieht, gedeutet. Aber auch die Interaktionsepisode wird nicht "an sich" bedeutungsvoll für den Teilnehmer an der Kommunikation, sondern ihre Bedeutung wird von der (4) Beziehung der Beteiligten von den Beteiligten interpretiert. Aber Beziehungen entstehen und bestehen nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind stets Element von (5) Geschichten, seien es gemeinsam durchlebte Geschichten, seien es Narrative, die für die beteiligten Beoachter relevant sind. Last, but not least: Die Geschichten sind unterschiedlich, je nachdem in welcher (6) Kultur sie erzählt werden, d.h. in unterschiedlichen Kulturen werden unterschiedliche Geschichten erzählt. Kulturelle Muster, und zu denen gehört im weitesten Sinn z.B. die unterschiedliche Funktionsweise von Familien und Organisationen, von Wissenschaft und Rechtssystem, Medizin und Erziehungssystem usw. sind an bestimmte Kommunikationsmedien gebunden, die erst Fernkommunikation möglich machen und weitgehend mitgestalten (das Medium ist die Massage).


In Familien bestimmt die Orientierung an Personen die Kommunikation, deswegen ist die Theorie von Jürgen Kriz brauchbar für Therapeuten, die personenorientiert arbeiten. Aber um Gesellschaften oder auch nur Organisationen bzw. ihre Entwicklungen zu erklären, ist sie einfach nicht passend, denn Organisationen funktionieren auch dann noch, wenn Mitarbeiter in den Ruhestand gehen, krank werden, durchdrehen usw., weil sie eine Spielregel praktizieren, die für die prinzipielle Austauschbarkeit der einzelnen Mitglieder sorgt (was nicht heißt, dass es keinen Unterschied macht, wer welchen Posten inne hat, siehe Trump/Obama).


Was den Einwand betrifft, der Beoachterbegriff sei mit einer Reduktion auf das Visuelle verbunden oder klammere den Körper aus, so ist dies in keinster Weise die systemtheoretische Position (ich habe die Etymologie des Begriffs "Beobachter" nicht recherchiert, aber vermute, er leitet sich eher von "achten" als von "schauen" ab, heißt ja auch nicht "Zuschauer"). Denn Beobachten ist (im Anschluss an Spencer-Brown) definiert als Kopplung zweier Operationen: Unterscheiden und Bezeichnen. Man muss sich auf diese Abstraktion einlassen, um zu "sehen", dass der Körper ein Beobachter ist. Er unterscheidet (autonom, unabhängig von dem mit ihm fest gekoppelten psychischen System) und er bezeichnet (durch körperliche, strukturdeterminierte Reaktionen als "Unterscheidungen", auf die ihrerseits mit körperlichen - oft erlernten - Reaktionen als "Bezeichnungen" reagiert wird...). Die Psyche, die "ihren" Körper beobachtet, ist dann lediglich ein Beoabachter 2. Ordnung.


Und auch soziale Systeme (als Kommunikationssysteme) sind Beobachter, die unterscheiden und bezeichnen, was wiederum von psychischen Systemen beobachtet wird...


Was "das Humanum", die condition humaine, ist?


Meine Antwort: Mit der Wechselbeziehung dieser drei Typen von Beobachtung zurecht kommen zu müssen, wobei sich die Veränderungen im Bereich der Kommunikationssysteme am schnellsten und radikalsten vollziehen (siehe Digitalisierung etc.) und den größten Anpassungsdruck ausüben.


Daher wahrscheinlich auch die ethnozentristischen Wünsche wieder zur Einfachheit der Affenhorde - = Kommunikation unter Anwesenden - zurück zu kehren (und entsprechende Gorillas als Alpha-Tiere an die Macht zu bringen).